Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
aus seiner Stimme herauszuhalten, denn nur so würde sie Frieden finden. »Das Tarot muss weiter bestehen, damit die Menschheit überleben kann.«
»Die Zeit … wird kommen, Krynan«, versprach sie leise und schloss die Augen. »Nur … eben jetzt noch nicht. Nicht in unserer Zeit.«
»Die Zeit wird kommen«, wiederholte er bestätigend und merkte zu seiner Überraschung, dass ihm salzige, rußige Tränen übers Gesicht rannen. Noch während er sprach, wurde der keuchende Atem seiner Mutter langsamer. Dann setzte er ganz aus. Einen Augenblick lang wartete und hoffte er. Doch der nächste Atemzug kam nie. Der Körper seiner Mutter erschlaffte, und mit einem Mal waren ihre Züge entspannt, aller Schmerz aus ihnen gewichen.
Alea trat hinter ihn und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.
»Ich muss nicht gehen«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich könnte doch hierbleiben. Jetzt ist sie tot, es kümmert doch niemanden mehr –«
»Das Tarot muss weiter bestehen, damit die Menschheit überleben kann«, fiel Alea ihm ins Wort. »Du musst deinen Schwur erfüllen, Krynan. Nicht nur für deine Mutter, für uns alle.«
Er stand auf und wandte sich ihr zu. »Glaubst du denn wirklich daran, Alea?«
»Ich muss daran glauben, Kryn.« Seine Frau lehnte sich an ihn und küsste ihn auf die tränenfeuchte Wange.
»Dann komm mit mir …«
Mit einem traurigen Lächeln schüttelte sie den Kopf. »Das können wir nicht riskieren. Geh, mein Liebster, jetzt, solange die Götter noch damit beschäftigt sind, einander mit Landschaft zu bewerfen. Ein Mann kommt vielleicht durch, wo eine Gruppe keine Chance hat. Es wird Verstecke geben, die sicherer sind, wo die Zerstörung nicht so schlimm ist wie hier.« Sie lächelte ihn mit unaussprechlicher Traurigkeit an und wischte sachte mit dem Daumen seine Tränen ab. »Aber denk manchmal an uns.«
»Alea …«
»Du bist der Bewahrer der heiligen Überlieferung, Krynan. Es ist deine Pflicht.«
Die Last schien ihm zu schwer, und so vergeblich. Sein Volk hatte schon so unendlich viel durchlitten, um das Wissen zusammenzutragen, das nun im Tarot enthalten war. Und doch hatten sich all ihre Bemühungen als fruchtlos erwiesen. Sachte berührte er ihren Bauch, der aus ihren zerlumpten Kleidern hervorstand. »Ich werde meinen Sohn niemals sehen …«
»Wenn du nicht gehst, wird es einerlei sein, ob dein Sohn geboren wird oder nicht«, antwortete sie traurig.
»Aber …«
»Ich verlasse mich auf dich«, flüsterte sie und küsste ihn auf die Wange. »Das tun wir alle.«
Krynan warf einen Blick über die Schulter und betrachtete, was von seinem Volk übrig geblieben war: ein Häufchen Flüchtlinge, das sich in der Höhle zusammendrängte, die Gesichter von Ruß und Asche geschwärzt, in den Augen die helle Verzweiflung.
»Du bist unsere Hoffnung für die Zukunft, Kryn«, erinnerte ihn Alea leise. »Unsere einzige Hoffnung, dass die Menschheit überhaupt eine Zukunft hat.«
Die Verantwortung war eine tonnenschwere Bürde. Er wusste nicht, ob er die Kraft hatte, sie zu tragen. Doch dann dachte er an seinen ungeborenen Sohn. Der Gedanke, dass eines Tages auch er zu dieser grenzenlosen Verzweiflung verdammt sein würde, wenn sein Vater jetzt nicht ging, half Krynan seine Stärke finden. Sein Sohn verdiente ein besseres Los. Er verdiente Hoffnung – selbst wenn sie letzten Endes vielleicht vergeblich war.
Krynan zog Alea an sich und umarmte sie fest, küsste sie auf ihre geschwärzten Lippen. Wenn er jetzt nicht schnell ging, würde die Verzweiflung ihm allen Mut dazu nehmen. Er legte die Hand auf ihren Bauch. »Ich liebe dich, Alea. Und sag meinem Sohn, dass ich auch ihn liebe.«
»Er wird im Wissen aufwachsen, der Sohn eines Helden zu sein«, versprach sie ihm. »Und jetzt geh! Geh, bevor die Gezeitenfürsten das Interesse an ihrem Krieg verlieren und sich fragen, was aus uns geworden ist.«
Er nickte und steckte das kleine Päckchen in sein Hemd. »Brauchst du noch etwas, bevor ich …«
»Geh einfach!«, befahl sie.
Krynan nickte. Erfüllt von einem schrecklichen Gefühl der Ungewissheit wandte er sich zum Ausgang der Höhle, um all die Menschen, die ihm noch geblieben waren – der jämmerliche Rest seines Volkes, die Leiche seiner Mutter, seine geliebte Frau und sein ungeborenes Kind –, für immer hinter sich zu lassen.
Das Tarot muss weiter bestehen, damit die Menschheit überleben kann, rief er sich in Erinnerung und trat in die höllische Nacht hinaus. Die Zeit wird
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