Flagge im Sturm
Prolog
Vor der Küste Neuenglands,
März 1708
Es war eine ganz simple Falle. Ob sie zuschnappte oder nicht, würde von der Anständigkeit des Opfers abhängen.
Die Schaluppe „Leopard“ hatte vor siebenundzwanzig Tagen Barbados verlassen. Während der letzten drei Tage hatte sie sich mit eingeholten Segeln von einem Sturm treiben lassen müssen, der aus Tag Nacht gemacht und haushohe Wellen aufgetürmt hatte.
Obwohl Jonathan Sparhawks Gesicht und seine Hände vor Kälte starr waren, und obwohl seine Augen vor Müdigkeit brannten, war er, der Eigner und Kapitän der „Leopard“, ein zufriedener Mann.
Denn als sich die Stürme bei Nachtanbruch legten, wusste er, dass er sich wieder in heimischem Gewässer befand. Der Salzgeschmack in der Luft, der nun zahme Wind in seinem Haar und der sechste Sinn eines jeden heimkehrenden Seemanns sagten es ihm.
„Land ahoi!“, kam der Ruf des Matrosen im Ausguck von hoch oben, und Jonathan schwang sich in die Wanten, um selbst auszuschauen. Er war ein großer, breitschultriger Mann, und trotz seines massigen Körperbaus bewegte er sich sehr behende und sicher in der Takelage. Sein langes schwarzes Haar flatterte ungebunden im Wind. Das Tauwerk war von Eis überzogen, es knackte und knisterte unter den Stiefeln, und der Wind zerrte an den Rockschößen. Die Eiseskälte hier oben war so grimmig, dass Jonathan fast um seine edelsten Körperteile fürchtete.
Er stemmte sich zwischen Mast und Vormars und richtete sein Fernglas auf die schmale dunkle Linie am Horizont. Point Judith, dachte er, und als jetzt der Wind auch noch die letzten Wolken zerriss, erkannte er im Licht der Sterne und der silbernen Sichel des zunehmenden Mondes, dass seine Vermutung stimmte. Zwar waren sie an Saybrook vorbeigetrieben, doch nicht bis in den Sund hinein.
Jonathan brüllte den Befehl zum Wenden der „Leopard“. Mit etwas Glück würden sie alle morgen zum Abendessen wieder daheim sein.
Daheim - für Jonathan hatte das Wort in dieser bitteren Nacht einen guten Klang. Er lächelte vor sich hin, als er sich vorstellte, was ihn in Plumstead erwarten würde. Der Grundbesitz gehörte jetzt Kit, und diesem als älterem Bruder stand er auch zu. Das war nur zu gerecht, denn Jonathans Interesse an einer Farm sieben Tage flussaufwärts vom Ozean entfernt war nur gering. Sein wirkliches Zuhause war seine Kajüte auf der „Leopard“.
In seinem Geburtshaus erwarteten ihn jedoch stets ein Bett, reichliche Speisen und das fröhliche Lachen von Kits hübscher Frau Dianna. Inzwischen hatten Tamsin und Joshua wahrscheinlich noch ein Brüderchen oder Schwesterchen bekommen. Ihren Onkel Jonathan hatten die beiden Kleinen vermutlich in den vier Monaten seiner Abwesenheit vollkommen vergessen. Nun, die kleine Arche Noah, die sorgfältig in Watte verpackt in der Seekiste verstaut war, würde schon dafür sorgen, dass er die Gunst der beiden zurückgewann.
Die Schaluppe nahm neuen Kurs. Hand über Hand ließ sich Jonathan wieder zum Deck hinunter, doch plötzlich hielt er inne und hob das Glas abermals an die Augen. Die hohe Woge an Lee senkte sich, und im dunklen Wellental war ein großes Beiboot zu sehen. Es lag zu tief im Wasser, denn viel zu viele Männer trotzten darin dicht zusammengedrängt dem Wind und der Gischt. Obwohl sie sich kräftig in die Riemen legten, um an die „Leopard“ heranzurudern, kamen sie in der rauen See nur sehr langsam voran.
Zwanzig Leute, die Crew eines Kauffahrers wie die der „Leopard“, dachte Jonathan. Ein Mann am Heck des Boots erhob sich, schwenkte eine wasserschwere Signalflagge und
brüllte etwas, doch der Wind verwehte seinen Ruf.
Rasch suchte Jonathan den Horizont nach einem sinkenden oder einem auf den Felsen vor der Küste gestrandeten Segler ab, auf dem sich noch weitere Schiffbrüchige befinden mochten. Bei diesem Wetter konnte ein Havarist innerhalb von Minuten zerbrechen und untergehen, und wie lange diese armen Seelen hier bereits auf dem offenen Boot ausgeharrt hatten, wussten nur sie selbst.
Wieder auf dem Deck, übernahm Jonathan das Ruder und steuerte seine Schaluppe dichter an das Rettungsboot heran, während seine Leute in der Takelage alles taten, um die Fahrt zu verlangsamen, denn ein Fehler beim Manövrieren, und die „Leopard“ mochte das kleine Boot überrennen und unter Wasser drücken.
Es gelang, die beiden Schiffe nahe zueinanderzubringen. Die Männer von der „Leopard“, riefen den Fremden Aufmunterungen und Anweisungen zu, und
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