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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Spiegelbrille drehte sich wieder in meine Richtung.
    Keiner der Namen kam mir bekannt vor, außer Stratton. Ich sagte: »Beryls mittlerer Name war Stratton.«
    »Vielleicht kommt daher ihr Spitzname, Straw.«
    »Daher und von ihren strohblonden Haaren«, bemerkte ich. Eigentlich hatte Beryl ja honigblonde Haare mit von der Sonne goldgefärbten Strähnen gehabt. Sie war eine zierliche Frau gewesen, mit ebenmäßigen, klassischen Gesichtszügen. Als sie noch lebte, hatte sie vermutlich phantastisch ausgesehen. Jetzt ließ sich das nur noch schwer beurteilen, denn das einzige mir bekannte Foto, das sie lebend zeigte, befand sich in ihrem Führerschein.
    »Ich habe mit ihrer Halbschwester gesprochen«, erklärte Marino, »Und sie hat mir erzählt, dass Beryl nur von Leuten, denen sie nahestand, Straw genannt wurde. Wem auch immer sie von den Keys da unten geschrieben hat, diese Person muss ihren Spitznamen gekannt haben. Das ist jedenfalls mein Eindruck.«
    Er rückte seine Brille zurecht. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie diese Briefe fotokopiert hat. Das bereitet mir Kopfzerbrechen. Oder wie viele Leute kennen Sie, die Fotokopien von ihren Privatbriefen machen?«
    »Sie haben doch angedeutet, dass sie wie eine Besessene alles archivierte«, erinnerte ich ihn.
    »Richtig. Auch das gibt mir zu beißen. Vermutlich hat die Ratte sie schon monatelang bedroht. Aber was hat er genau getan? Was hat er gesagt? Wir wissen es nicht, weil sie weder seine Telefonanrufe auf Tonband aufgenommen noch ihren Inhalt notiert hat. Die Frau macht Fotokopien von persönlichen Briefen, aber wenn jemand ihr droht, sie um die Ecke zu bringen, zeichnet sie nichts auf. Sagen Sie mir, ob das einen Sinn ergibt.«
    »Nicht alle Leute denken so wie wir.«
    »Nun, manche Leute stecken bis über beide Ohren in Geschichten, von denen niemand etwas erfahren soll, und können deshalb nicht klar denken«, argumentierte er.
    Er lenkte den Wagen in eine gekieste Auffahrt und parkte vor einem Garagentor. Das Gras stand viel zu hoch. Schlanker Löwenzahn bewegte sich im leichten Wind hin und her. Ein Schild mit der Aufschrift »Zu verkaufen« stand neben dem Briefkasten. Quer über der grauen Haustür klebte noch immer ein Stück von dem gelben Klebeband, wie es die Polizei am Tatort verwendet.
    »Ihr fahrbarer Untersatz steht in der Garage«, sagte Marino, als wir ausstiegen.
    »Ein neuer schwarzer Honda Accord EX. Ein paar Details daran werden Sie vermutlich interessieren.«
    Wir standen in der Auffahrt und sahen uns um. Die schrägen Sonnenstrahlen fielen mir warm von hinten auf Schultern und Hals. Die Luft war kühl und das allgegenwärtige Summen der Herbstinsekten das einzig wahrnehmbare Geräusch. Ich atmete langsam und tief durch. Ich war auf einmal sehr müde.
    Ihr Haus im Bauhaus-Stil war modern und sachlich schlicht mit einer langgestreckten Vorderfront aus großen Fenstern, die von Pfeilern im Erdgeschoss getragen wurde. Es sah aus wie ein Schiff mit offenem Unterdeck und war genau das Haus, das sich ein wohlhabendes junges Paar bauen würde, aus Feldsteinen und grau geflecktem Holz, mit großen Zimmern, hohen Decken und jeder Menge teurer Platzverschwendung. Der Windham Driveendete an Beryl Madisons Grundstück in einer Sackgasse, was eine Erklärung dafür war, dass niemand etwas gesehen oder gehört hatte, bis es zu spät war. Eichen und Pinien bildeten einen Blättervorhang zwischen Beryl und ihren nächsten Nachbarn und schirmten das Haus auf zwei Seiten gegen die Außenwelt ab. Hinten fiel das Grundstück steil in eine felsige, mit Dickicht bewachsene Senke ab, die in einen unberührten Wald auslief, der so weit reichte, wie ich schauen konnte.
    »Verdammt noch mal. Ich möchte wetten, dass sie ihr eigenes Rotwild hatte«, sagte Marino, als wir ums Haus herum nach vorn gingen.
    »Ist schon was, oder? Man schaut aus seinem Fenster und glaubt, die ganze Welt gehöre einem ganz allein. Ich wette, dass die Aussicht besonders schön ist, wenn es schneit. Mein lieber Schwan, so eine Hütte hätte ich auch gern. Im Winter würde ich ein nettes Feuerchen machen, mir ein Schlückchen Bourbon genehmigen und einfach die Wälder da draußen betrachten. Reich sein ist schon was Angenehmes.«
    »Besonders, wenn man noch am leben ist, um es zu genießen.«
    »Wie wahr!«, erwiderte er.
    Herbstlaub raschelte unter unseren Schuhen, als wir um den Westflügel gingen. Ich bemerkte das Guckloch in der Haustür, die sich auf der Höhe des Innenhofs

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