Fremde Wasser
trank einen Schluck Espresso. Der heiße Kaffee tat ihm gut. Doch die Niedergeschlagenheit verflog nicht. Er sah zu Klein
hinüber, in der Hoffnung, der könne seine Trübsal verjagen. Doch Martin Klein beugte sich bereits wieder über seinen Text,
überflog die Zeilen, und Dengler konnte sehen, wie die Augen seines Freundes an manchen Stellen verweilten. Der Kugelschreiber
näherte sich dem Blatt Papier und strich hier ein Wort durch, fügte dort eine Ergänzung einoder vermerkte am Rand geheimnisvolle Zeichen, die Dengler wie Hieroglyphen erschienen.
Plötzlich überkam Dengler eine Woge hässlichen Neids auf seinen Freund. Auch er würde gerne so selbstvergessen und konzentriert
arbeiten, ohne die Selbstzweifel, die ihn immer öfter quälten.
Missmutig schaute er auf die Uhr.
Gleich kommt die nächste Klientin. Wieder Fotos, wieder zerbrechende Illusionen?
Er trank den Kaffee aus, stand auf, ließ den erstaunt aufblickenden Martin Klein ohne Gruß zurück, zahlte an der Bar und ging
wieder in sein Büro im ersten Stock.
* * *
»Plong.«
Die alte Dame stieß den Stock auf den Boden.
»Bitte setzen Sie sich doch«, sagte Georg Dengler.
Sie sah ihn missbilligend an.
»Unterbrechen Sie mich nicht, junger Mann.«
Sie beäugte misstrauisch den Stuhl vor Denglers Schreibtisch, als prüfe sie, ob sie sich diesem alten Holzding anvertrauen
könne.
Dengler wiederholte die Einladung mit einer Armbewegung.
Sie trug schwarze Handschuhe, sehr dünn und sehr vornehm. Vorsichtig fuhr sie mit dem Zeigefinger die Lehne entlang und hob
dann die Fingerspitze gegen das Licht, das durch das Fenster in Denglers Büro fiel.
Jetzt bläst sie den Staub von ihrem Finger.
Sie tat es nicht. Der Stuhl schien den Test bestanden zu haben. Dengler seufzte. Sie setzte sich. Den dunkelbraunen, fast
schwarz polierten und mit einer eisernen Spitze versehenen Gehstock stellte sie mit einer bedächtigen Bewegung zwischen ihre
Beine und stützte sich mit beiden Händen darauf. Den Kopf hielt sie aufrecht. Zwei braune Augen mustertenGeorg Dengler, und darin stand etwas Nachsichtiges, gerade so, als hätte sie eben einem Lakaien Weisungen erteilt und sei
sich nun nicht sicher, ob dieser ihre Wünsche auch vollständig begriffen habe.
»Bitte erzählen Sie mir Ihre Geschichte noch einmal der Reihe nach«, sagte Dengler und zog sein schwarzes Notizbuch aus der
Innentasche seines Jacketts.
Die alte Frau holte tief Luft.
»Sie hatte kein schwaches Herz«, sagte sie schließlich, »niemand in unserer Familie hatte je ein schwaches Herz. Und Angelika
auch nicht.«
Sie machte eine Pause und starrte ihn unverwandt an.
Dengler wartete. Die Spitze seines Füllers ruhte erwartungsvoll über dem Papier. Er wusste nicht, was er schreiben sollte.
Da die Frau jedoch weiter schwieg, schrieb er: Kein schwaches Herz.
»Erzählen Sie der Reihe nach«, sagte er ruhig, und dann sah er, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
[ Menü ]
Videosequenz bellgard1.mpg
»... weiß nicht, woher der Kunde meine Telefonnummer hat, aber er hat sie, und er drohte mir, mich auffliegen zu lassen. Zum
ersten Mal, seit ich diesen Job mache, werde ich bedroht. Wahrscheinlich ist Schumacher vom Verband die undichte Stelle. Den
werde ich mir noch zur Brust nehmen. Diese Aufnahmen hier sind meine Lebensversicherung. Ich werde sie versteckt ins Netz
stellen. Sollte ich das Verzeichnis, in dem diese Videodateien gelagert sind, eine gewisse Zeit nicht aufrufen, wird der automatische
Schutz aufgelöst, und die Videosequenzen werden öffentlich im Netz stehen, frei zugänglich für jedermann. Und da werden einige
staunen, was aus dem Dr. Norbert Bellgard geworden ist, auf dem sie alle herumgehackt haben.
Also, ich heiße Dr. Norbert Bellgard, bin ehemaliger Kardiologe, bekannt durch den Herzklappenskandal, den die Spürhunde von
der AOK angezettelt hatten und wegen dem ich meine Zulassung verlor. Ich erinnere mich noch gut, wie die Polizisten mich morgens
um fünf aus dem Bett klingelten. So etwas vergisst man nicht so leicht. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen. Ich habe mir bis
heute nichts vorzuwerfen. Ich glaubte, die Herzklappen aus China seien genauso gut wie die deutschen. Ich dachte das wirklich.
Reinen Herzens.
Wenn die Krankenkasse in aller Ruhe auf mich zugekommen wäre und gesagt hätte: Dr. Bellgard, wir wissen, Sie verwenden die
billigeren chinesischen Herzklappen. Sie vertreiben sie auch an andere Kollegen. Es gibt
Weitere Kostenlose Bücher