Geliebter Barbar
überhaupt auf der Welt war«, berichtete sie aufgeräumt. Es war ihr gerade wieder eingefallen, und sie war sicher, daß es ihren Vater interessieren würde.
Der nickte und sagte dann: »Hör mal, Tochter, ich möchte, daß du einen Moment mal ganz still bist, während ich mich mit deiner Freundin unterhalte.«
»Ja, Papa.«
Der Mann wandte sich wieder Judith zu. Die Art, wie sie ihn unentwegt anstarrte, brachte ihn ein wenig aus der Fassung. Was für ein ernsthaftes, junges Ding. Zu ernsthaft für ihr Alter, fand er.
»Wie alt bist du, Judith?«
Sie hielt vier Finger hoch.
»Papa! Genauso alt wie ich!« rief Frances Catherine.
»Nein, Frances Catherine. Sie ist vier Jahre und du bist fünf. Oder hast du das vergessen?«
»Nein, Papa.«
Er lächelte seine Tochter an und versuchte noch einmal, mit Judith zu reden. »Du hast doch keine Angst vor mir, oder?«
»Sie hat vor nichts Angst, Papa.«
»Sei still, Tochter. Ich möchte ein paar Worte von deiner Freundin hören. Judith, ist deine Mutter hier?«
Judith schüttelte den Kopf und drehte nervös eine Locke ihres weißblonden Haares um ihre Finger, ohne jedoch den Blick von ihm abzuwenden. Der Mann hatte einen dichten roten Bart, und wenn er sprach, zitterten die einzelnen Barthaare. Judith hätte sie zu gern einmal angefaßt. Wie sich das wohl anfühlte?
»Judith? Ist deine Mama hier?« wiederholte der Mann.
»Nein. Mama ist bei Onkel Tekel. Sie weiß nicht, daß ich hier bin. Das ist ein Geheimnis, und wenn ich es verrate, darf ich nie wieder zu dem Fest kommen. Hat Tante Millicent gesagt.« Nun, da sie einmal angefangen hatte, sprudelten die Worte aus ihr heraus. »Onkel Tekel sagte, er ist genau wie ein Papa, aber er ist bloß Mamas Bruder, und ich darf nie auf seinem Schoß sitzen. Ich würde auch gar nicht wollen, wenn ich dürfte, aber ich darf ja nicht, also was macht das schon.«
Frances Catherines Vater hatte Schwierigkeiten, Judiths Wortschwall zu folgen, seine Tochter dagegen überhaupt nicht.
»Warum darfst du denn nicht auf seinem Schoß sitzen?« fragte sie interessiert.
»Er hat beide Beine gebrochen.«
Frances Catherine stieß einen entsetzten Schrei aus.
»Papa, ist das nicht tragisch?«
Ihr Vater seufzte. Offensichtlich entglitt ihm die Unterhaltung.
»Ja, das ist es wirklich«, stimmte er zu. »Also, Judith, wenn deine Mutter zu Hause ist, mit wem bist du dann hier?«
»Mit Mamas Schwester«, antwortete Judith. »Ich hab immer bei Tante Millicent und Onkel Herbert gewohnt, aber jetzt darf ich das nicht mehr.«
»Wieso?« fragte Frances Catherine.
»Weil Mama gehört hat, daß ich Onkel Herbert ›Papa‹ genannt habe. Darüber ist sie so wütend geworden, daß sie mich auf den Kopf gehauen hat. Dann hat Onkel Tekel gesagt, daß ich jetzt ein halbes Jahr bei ihm und Mama leben soll, damit ich weiß, wo ich hingehöre, und meine Tante Millicent und mein Onkel Herbert sollen gefälligst ohne mich auskommen. Mama wollte mich auch das andere halbe Jahr behalten, aber Onkel Tekel hatte noch nichts getrunken, und dann weiß sie, daß er später noch weiß, was er gesagt hat. Er weiß das nämlich immer, wenn er nicht betrunken ist. Und Mama war wieder schrecklich wütend.«
»War deine Mama darum wütend, weil sie dich vermißt, wenn du nicht bei ihr bist?« fragte Frances Catherine.
»Nein«, sagte Judith leise. »Mama sagt, ich bin lästig.«
»Warum läßt sie dich dann nicht fort?«
»Sie mag Onkel Herbert nicht«, erklärte Judith.
»Warum mag sie ihn denn nicht?« fragte Frances Catherine weiter.
»Weil er mit den verdammten Schotten verwandt ist.« Judith wiederholte, was sie schon oft gehört hatte. »Mama sagt, ich darf noch nicht mal mit den verdammten Schotten reden.«
»Papa, bin ich ein verdammter Schotte?« Frances Catherine runzelte besorgt die kleine Stirn.
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Ich denn?« fragte Judith zaghaft.
»Du bist Engländerin, Judith«, erklärte ihr der Mann geduldig.
»Bin ich dann eine verdammte Engländerin?«
Nun wurde der Mann wirklich ärgerlich. »Niemand ist ein verdammter Irgendwer«, sagte er. Er wollte noch etwas hinzufügen, brach aber plötzlich in lautes Lachen aus. Sein mächtiger Bauch bebte vor Vergnügen.
»In Gegenwart von euch zwei kleinen Plappermäulchen sage ich lieber nichts, was ein Geheimnis bleiben sollte.«
»Warum nicht, Papa?«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, gab er zurück. Er stand auf, seine Tochter auf dem einen, Judith auf dem anderen
Weitere Kostenlose Bücher