Die Stunde der Seherin - Historischer Roman
ERSTES KAPITEL
Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht immer:
man kann nichts dazutun noch abtun;
und solches tut Gott,
dass man sich vor ihm fürchten soll.
(Prediger Salomo 3,14)
D er Ton in ihrem Ohr veränderte sich.
Als der Sturm sie über Bord gezogen und ins Wasser geworfen hatte, war der Ton quälend schrill gewesen. Peinigend hatte er ihren ganzen Kopf ausgefüllt, hatte sie wie eine Fadenpuppe an der aufgewühlten Wasseroberfläche entlanggezogen. Sie konnte sich daran erinnern, wie ihr Salzwasser ins Gesicht spritzte, aber nicht daran, untergetaucht zu sein oder Wasser geschluckt zu haben.
Der Ton wurde weich.
So weich wie die Kuhle, in die Christina sich dankbar hatte sinken lassen, nachdem sie durch hartes Schilfrohr gekrochen war und sich die Hände an scharfen Blattkanten aufgeschnitten hatte. Das Schilf wogte immer noch drohend vor ihrer Nase, doch es konnte ihr nichts mehr anhaben.
Der Ton nahm Gestalt an.
Er verließ die ausgetretene Spur, auf der er sich sonst bewegte und sie peinigte, und schmiegte sich stattdessen in ihr Ohr, wo er feine Schnörkel formte, Wohlklänge, wunderbare Klänge … Christina legte beide Hände auf die Ohren, um die Töne darin zu behalten, damit sie ihren Kopf ausfüllten und sie aus der Kälte davontrugen.
»Allmächtiger Gott, lieber Herr, willst du mich auf die Probe stellen, dass du mir so etwas Schönes in den Weg legst? Ganz bestimmt willst du mich strafen …«
Christina runzelte die Stirn. Ihr war entsetzlich kalt, aber die Melodie in ihrem Kopf half gegen die Kälte. Sie half ihr immer, sich über Schmerz und Kälte zu erheben, sie half ihr, den Körper eine Stufe höher zu heben, dorthin, wo die Kälte zwar nach ihr griff, sie aber nicht erreichen konnte – wenn niemand störte. Hier aber störte jemand den Ton und ihre innige Zweisamkeit mit ihm, hier verhinderte jemand, dass sie sich entfernen konnte …
»Herr, hab Erbarmen, prüfe mich nicht so …«
Sanft streifte ein Atemzug ihr Gesicht. Dann kam eine Hand, die mit großer Zartheit über ihre Wange strich und wie ein bloßer Gedanke ihre Lippen berührte. Christina schlug die Augen auf. Der Ton verschwand, es wurde still in ihrem Ohr. Nur das Schilf wogte im immer noch böigen Wind an diesem düsteren Tag im Jahre des Herrn 1069. Der Sturm hatte sich beruhigt, und das große Meer hatte endlich seine Wellen eingeholt. Über ihnen schrien Möwen. Es roch nach fauligen Algen – aber nicht nach Salz. Und der Finger war von ihren Lippen verschwunden.
»Vergebt …«
Seine Stimme erstarb. Er war jung und schlecht rasiert, das Haar hing ihm in unordentlichen Strähnen über die schmalen Schultern. Seine Augen schimmerten in sanftem Braun … schimmerten ein wenig zu sehr, wie Christina fand. Und er hockte auch ein wenig zu dicht bei ihr. Zumindest ließ seine einfache Kleidung darauf schließen, dass sein Abstand sehr ungehörig war. Vor allem aber wandte er den Blick nicht von ihr. Auch das gehörte sich nicht, doch ihr wurde plötzlich ganz heiß. Einen langen Moment versank sie in diesem Blick.
Die Kälte hatte es nicht gewagt, an ihr hochzukriechen. Christinas Kleider klebten ihr immer noch nass am Körper, und auch an ihrer Lage im schlammigen Schilf hatte sich nichts geändert. Außer dass der Mann sie anschaute und mit seinen Blicken umfing und wärmte. Sie schloss die Augen. Es war gut so.
»Ich bringe Euch, gleich bringe ich Euch … vergebt mir – Herr, womit prüfst du mich hier … ich will Euch sagen … der Herr vergebe mir, Er sendet mir Prüfungen …« Sein Stammeln wurde immer wirrer, und dann fasste er sie an. Christina riss die Augen wieder auf. Alle Töne in ihrem Kopf waren nun verstummt, als wollten sie lautem Geschrei Platz machen, weil er Hand an sie legte. Doch er drapierte nur seinen Mantel um ihre schmalen Schultern. Das tat er ziemlich ungeschickt. Dann entschied er sich zu einem weiteren Schritt und grub ihren Oberkörper aus dem Schlammloch. Sie versuchte instinktiv, sich zu wehren, obwohl das närrisch war, denn er tat ihr ja nichts.
»Vergebt mir.« Der Mann fuhr zurück. Bis zu den Knien hockte er im Schlamm vor ihr. Mit einem zerfetzten Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn – und das brachte Christina zum Lachen. Wieso schwitzte der Mann? Es war eiskalt, und es hatte angefangen zu regnen.
»In Eurer Welt ist es sicher so warm, dass es auch für mich noch reicht«, neckte sie den Fremden, der ihr die schützende Melodie genommen
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