Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Nachtverkehr hinaus.
*
Die Nacht war kalt, aber nicht so kalt wie auf dieser Höhe
üblich. Sie hatten ein Stück oberhalb des Gletschers einen kleinen Lagerplatz
gefunden, nicht groß genug, um zu viert bequem liegen zu können, doch immerhin
bretteben und ein bisschen geschützt gegen den Wind, der eigentlich immer
wehte. In jeweils zwei Decken eingewickelt, hatten sie sich halb liegend, halb
sitzend hingekauert, die Oberkörper und die Köpfe gegen einen Steinbrocken
gelehnt, und zu schlafen versucht.
Für Marielle war es ein seltsames Gefühl, eingebettet zwischen
lauter jungen Männern, zwischen Pablo und Felix, der erst neunzehn war, aber
sicher ein guter Bergsteiger und Kletterer, und der, sie musste es vor sich
selbst zugeben, wirklich süß aussah.
Ganz außen lag, hockte, kauerte Michael. Er war ein wortkarger,
scheuer, vielleicht sogar schüchterner Typ. Nett waren sie beide, Felix und
Michael. Und dennoch kam ihr die Situation komisch vor.
Sie schlief nicht, zumindest glaubte sie, überhaupt nicht zu
schlafen. Sie schaute in den Himmel, war glücklich über die Sternbilder, die
sie erkannte, war unzufrieden mit ihrer Schlafposition, wälzte sich herum,
hoffend, die anderen in ihrem labilen Schlaf damit nicht allzu sehr zu stören,
richtete sich in ihrer neuen Position ein, betrachtete die Sterne, hörte, wie
entfernt Steine polterten, dachte an den Tag, der hinter ihr lag – und schlief
ein. Freilich schlief sie ein! Sie fiel in einen unruhigen, traumlosen und
alles andere als erholsamen Schlaf, aus dem sie nach vielleicht zwanzig Minuten
… oder waren es vierzig … oder sogar mehr als eine Stunde? … aus dem sie
jedenfalls immer wieder erwachte, bis sie eigentlich nur noch hoffte, diese
unbequeme Nacht würde endlich zu Ende gehen, das Schwarz von der frühen
Dämmerung vertrieben werden.
Es war noch Nacht, als sie Felix hörte, neben sich. Sie hatte
geschlafen, war jetzt aber sofort hellwach.
»Habt ihr das gehört?«, fragte er aufgeregt. »Habt ihr das nicht
gehört?«
»Hnnn?!« Es war Michael, der sich als Erster verschlafen meldete.
Pablo raffte sich in seinen Decken auf, knipste die LED -Lampe an, leuchte allen in die Gesichter.
»Mach doch die Scheiß-Lampe aus«, maulte Felix. »Blendet ja, dass
man halb blind ist davon. Habt ihr nichts gehört?«
Anscheinend hatte niemand etwas gehört.
»Was hätten wir hören sollen?«, fragte Marielle.
»Es hat geklungen, als ob jemand geschrien hätte. Sehr weit weg. Es
war, als wenn sich wer ein Tuch vor den Mund hält und dann schreit. So gedämpft
und so fern, wenn ihr versteht, was ich meine.«
Pablo schraubte seine Trinkflasche auf und nahm einen Schluck. Er
rülpste, laut, und von irgendwoher kam der Rülpser als Echo zurück.
»Bist doch eine Sau!«, sagte Marielle zu ihm.
»Hast du auch nix gehört?«, fragte Felix seinen Bergrettungskumpel,
den stillen Michael.
Es hatte wirklich keiner etwas gehört. Aber jetzt waren sie
aufgeschreckt, zogen sitzend ihre Decken über die Schultern und lauschten in
die kalte Hochgebirgsnacht.
Erst hörten sie nichts. Nein, sie hörten etwas: die Stille. Denn die
Stille war nicht einfach nichts. Die Luft schien zu atmen, der Gletscher unter
ihnen schien sich wie eine Schnecke vorwärtszubewegen, beinahe lautlos, aber
eben nicht völlig. Sie hörten ihr eigenes Atmen, vielleicht sogar ihren
Herzschlag, und das alles zusammen klang beinahe so wie das Rauschen in der
großen Muschel, die Marielles Vater ihr vor vielen, vielen Jahren immer wieder
einmal ans Ohr gehalten hatte. »So klingt das Meer, meine Kleine.«
»Wahrscheinlich hast du das nur geträumt«, hörte sie Michael sagen.
»Da schreit niemand.«
Stille.
»Ich denke die ganze Zeit darüber nach«, sagte Felix nach einer
Weile, »ob der Mann vielleicht in eine Gletscherspalte gestürzt sein könnte.
Und jetzt irgendwo unten liegt, noch lebt und immer wieder um Hilfe ruft. Der
Gedanke lässt mich nicht los.«
»Warum ist dann sein Handy irgendwo hier in den Felsen?«, fragte
Michael.
Felix zuckte die Schultern. Keiner von ihnen hatte darauf eine
Antwort.
Stille.
Obwohl Pablo leise sprach, schrak Marielle zusammen.
»Wenn er im Gletscher wäre, hätten ihn dann nicht die Hubschrauber
mit ihren Wärmebildkameras …«
»Da hab ich Zweifel«, sagte Michael. Wenn der irgendwo richtig unten
liegt, vielleicht sogar noch in einer A-Spalte, die oben ganz eng ist und unten
viel breiter, dann ist es bestimmt gut möglich, dass auch die
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