Goettin der Legenden
beobachteten.
Sie ging nicht wie sonst in den Turm, sondern wanderte am Ufer entlang, ließ ihr weißes Kleid aus schwerer, golddurchwirkter Seide über die Wildblumen streichen, die diese ganz besondere Insel wie ein Teppich bedeckten. Energie umwirbelte sie, so dass die Vögel, die gerade erst von der Morgendämmerung geweckt worden waren, sich erschrocken von den Ästen des Ebereschenwäldchens erhoben und davonflogen. Tief atmete Viviane den süßen Duft des Mooses ein und ließ sich das würzige Aroma des wilden Thymians in die Nase steigen.
Wie konnte sie es zugelassen haben, dass dies passierte? Schon vom ersten Moment an, als sie Merlin begegnet war, hatte sie gewusst, wie sehr er unter der Welt gelitten hatte. Sicher, er war ein mächtiger Druide, doch er besaß eine ungewöhnliche Sensibilität und ein so sanftes Herz, dass selbst die wilden Kreaturen des Waldes ihm aus der Hand fraßen. Viviane lächelte unter Tränen. Merlin hatte sie von ihrer kleinen Insel mitten in ihrem mystischen See fortgelockt, und sie war bereitwillig seine Geliebte geworden. Aber sie konnte einfach nicht begreifen, warum sie als Göttin nicht fähig sein sollte, das, was die Welt in ihm zerbrochen hatte, wieder zu heilen.
»Wenn dieser elende Arthur nicht gewesen wäre, hätte ich es geschafft!«, rief sie laut. Ihre wütenden Worte brachten den sonst so stillen See in Aufruhr, unheilvolles Dunkel stieg aus seiner kühlen Tiefe, das Morgenlicht verschleierte sich. Stirnrunzelnd hob Viviane die Hand, bändigte ihren Zorn, schnippte mit den Fingern über den See und befahl: »Hebe dich hinfort, Finsternis! Auch wenn mein Zorn entflammt ist, bist du in meinem Reich nicht willkommen!«
Augenblicklich gehorchten ihr die Fluten, beruhigten sich, und die Dunkelheit löste sich auf wie Tau in der Mittagssonne. Viviane blickte hinaus auf das vertraute Wasser. Die Schnelligkeit, mit der es auf ihren Zorn reagiert hatte, beunruhigte sie mehr, als sie zugeben wollte. Dass die Finsternis ihren See tatsächlich berührt hatte, war alarmierend.
»Gleichgewicht von Licht und Dunkelheit? Bah!« Viviane schleuderte die Worte in den Nebel, aber diesmal hatte sie die Reaktion auf ihren Ausbruch unter Kontrolle, und die feuchte Luft um sie wirbelte und schimmerte – eine Erwiderung auf die Macht der Göttin. »Es gibt kein Gleichgewicht, wenn ein Sterblicher so viel Dunkelheit auf sich zieht, dass sogar mein Reich davon erfasst wird.«
Ich sollte ehrlich zu mir sein
, dachte sie und begann wieder damit, am moosbewachsenen Ufer hin und her zu gehen.
Die Sache ist nicht so simpel, dass ich meinen Zorn einfach auf den König der Briten richten kann. Guinevere spielt auch eine Rolle in dieser Tragödie. Und der ach so perfekte Ritter Lancelot ebenfalls.
Die Göttin verzog ihr Gesicht.
Merlin hatte Viviane nicht viele Geheimnisse über Camelot anvertraut. Er hatte ihr gesagt, sie sei seine Zuflucht, seine Erholung von allen Schmerzen, und deshalb wollte er mit ihr nicht über solche schwierigen Themen sprechen. Aber die Herrin vom See hatte Augen und Ohren überall, wo es Wasser gab, und sie hatte ganz gewiss genug gesehen und gehört, um zu wissen, dass Merlins beängstigende Prophezeiungen eintreffen würden.
»Und das hat dir das Herz gebrochen, mein Geliebter«, flüsterte sie in den Nebel.
Nein! Sie würde es nicht zulassen. Sie war eine Göttin, sie hatte Kräfte, die kein Sterblicher auch nur annähernd begreifen konnte, nicht einmal ein so kluger Mann wie Merlin.
Viviane blieb stehen und blickte nachdenklich über ihren See. »Ich brauche jemanden, der nicht aus dieser Zeit stammt und nicht aus dieser Welt. Jemanden, der eine ganz eigene Art hat, Menschen und Situationen zu betrachten, der sich zum Licht bekennt statt zur Dunkelheit, den die Pracht von Camelot nicht einschüchtert und auch nicht so blendet, dass …« Dass was? Was genau musste sie tun, um die Zukunft so zu ändern, dass sie Arthur vor seinem tragischen Schicksal retten und damit auch ihren Geliebten befreien konnte?
Ihren Geliebten … Viviane fühlte, wie ihre Schultern nach vorn sackten. Sie legte das Gesicht in die Hände und weinte bitterlich. Schon jetzt vermisste sie ihn und musste mit sich kämpfen, um nicht auf der Stelle in die Kristallhöhle zurückzulaufen und sich neben seinem reglosen Körper niederzulassen. Ihr Atem ging stoßweise, sie schluchzte. Schließlich war sie nicht nur eine Göttin, sondern auch eine Frau, und zwar eine Frau mit gebrochenem
Weitere Kostenlose Bücher