H2O
Lieder, untermalt vom blechernen Klang einer Spieldose.
Sie hält inne und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es ist sehr heiß. In dem alten Topf auf dem Holzofen geben die mit einer Gabel eingestochenen Würste ihre Salzlake an das kochende Wasser ab. Die Witwe hat die gewürfelten Tomaten und Zwiebeln auf einem Schneidebrett vorbereitet, das wie eine Opfergabe mitten auf dem mit einem kanariengelben Wachstuch bedeckten Tisch liegt. Durch die leicht beschlagene Scheibe im oberen Teil der Tür betrachtet sie den Nachthimmel.
Von ihrem Standort aus sieht Madame Hoareau durch diese Luke das Dach ihres Hauses und die vier großen Palmen, die ihr Grundstück säumen und sich jetzt im Abendwind zu wiegen beginnen. Sie liebt diese Stunde ganz besonders: die Stunde, wenn alles still ist.
Sie runzelt die Stirn: Eine Sekunde lang war es ihr, als wäre eine seltsame Gestalt vorbeigehuscht. Wie die eines Büßers ... Ein Schatten vielleicht, der rasch zwischen den Stämmen hindurchgeglitten ist.
Die Witwe schaltet den Kassettenrekorder aus, greift nach einem Geschirrtuch, das seitlich am Herd hängt, und trocknet sich die Hände ab. Die Nase an die Scheibe gedrückt, späht sie erneut hinaus. Nichts. Die Palmwedel wogen sanft vor dem schwarzen Himmel.
Sie ist gerade wieder an den Herd getreten, als ein Aufprall an der Tür sie auffahren lässt. Die Witwe hört ein reibendes Geräusch, dann dumpfe Schläge, als stieße ein großes Tier mit dem Rücken an den Türstock.
Der Weiler, in dem sie wohnt, besteht aus fünf in den Bergen verstreuten Häusern. Er ist sehr abgelegen, weit von der Straße entfernt. Und die Küche besitzt nur einen einzigen Ausgang. Doch die Witwe Hoareau kennt keine Furcht, das wissen alle. Sie packt das große Tranchiermesser, das an der Wand hängt, wiegt es in ihren kräftigen Händen und geht zur Tür.
»Josef und Maria!«, grummelt sie. »Vermutlich einer dieser Säufer, der ...«
Seitlich vor der Tür postiert, fragt sie:
»Wer ist da?«
Ein dumpfes »Hüüüüüüün« ist die Antwort, ein sonderbarer Laut wie das Winseln eines verwundeten Hundes. Sie senkt den Kopf, um besser zu hören. Ein Schauer überläuft sie. Das war nicht der Klagelaut eines Hundes. Das war eine menschliche Stimme.
Die Witwe bekreuzigt sich hastig, steckt das Messer vorne in ihre Schürzentasche und ergreift eine Machete, die gleich neben einem Sack mit glänzenden Zwiebeln in einem Schirmständer aus Bambus steckt ... Damit wenigstens weiß sie umzugehen.
Die Waffe in der Hand, reißt sie die Tür auf. In dem rechteckigen Lichtfleck, der aus der Küche nach draußen fällt, erblickt sie einen Mann. Einen Mann, der vor ihr am Boden kniet. Er ist mit Schrammen übersät, getrocknetes Blut und Erde kleben an seinem Körper, die Kleidung ist zerrissen. Er hat die Hände zusammengelegt wie ein Bittsteller und blickt flehentlich auf die füllige Frau, die ihre Machete in den Nachthimmel reckt, erstarrt in der Pose einer etwas albernen Statue.
Mit zusammengepressten Lippen verfällt der Mann erneut in seinen näselnden Singsang: »Hüüüüüüün« - wie ein Kind.
Dicke glänzende Tropfen rinnen plötzlich aus seinen Augen.
Heiße Tränen, an denen er fast erstickt.
5
Sénéchal griff nach der Flasche und schenkte dem Forscher ordentlich von dem kreolischen Punch nach.
»Ich begreife, dass er für Aufsehen sorgt, Ihr Quastenflosser ... Ein Fisch, der dreihundertfünfzig Millionen Jahre alt ist!«
»Er ist kein Fisch mehr, wie ich bereits erwähnt habe. Er hat sich von der Reihe der Fische entfernt, um sich derjenigen der Amphibien anzunähern, den erdgebundenen Vorläufern der Reptilien, der Vögel und Säugetiere. Es ist also kein weiter Schritt zu der Annahme, er sei unser Urahn. Man tauft den ersten offiziell wiederaufgetauchten Quastenflosser Latimeria chalumnae Smith. Und Smith, der Ichthyologe, verspricht demjenigen eine hohe Belohnung, der ihm ein weiteres lebendes Fossil bringt. Denn ihm ist zu Ohren gekommen, dass noch andere Exemplare vor den südafrikanischen Küsten gesichtet wurden.«
»Und, hat das geklappt?«
»Wie man's nimmt. Der gute Smith musste vierzehn Jahre warten, bis ihm 1952 der Fang eines weiteren Quastenflossers gemeldet wurde - diesmal vor der Insel Anjouan, einer der Vulkaninseln des Komoren-Archipels.«
»Wurden seither noch andere Quastenflosser gefunden?«
»Sechs vor den Küsten Südafrikas. 1986 ging einem Fischer in der Mosambik-Straße einer ins
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