Haltlos
Stunden Mathematik wieder ihren anderen Problemen zuwandte, konnte sie alles viel objektiver betrachten und war in der Lage, eine Lösung zu finden, ohne dabei von ihren Emotionen überschwemmt zu werden.
Sie seufzte tief: „Oh Mann, ich werde wohl jede Menge Übungsaufgaben brauchen. Hoffentlich legen die Professoren keine Schonzeit für uns Studies ein und geben die erste Übung erst in der zweiten Woche raus. Das würde ich echt nicht überleben.“
Immerhin konnte sie sich noch einmal die letzten Vorlesungen von Analysis III aus dem dritten Semester anschauen. Dann war sie für Analysis IV dieses Semester auch gleich wieder auf dem Laufenden.
Der Regen wurde stärker und sie ging vom Gas. Gleich bog sie ohnehin auf den Olaf-Palme-Damm ab und war dann auch schon fast in Kiel Wik.
Nach ein paar Straßen kam sie in der Knorrstraße an und suchte verzweifelt nach einem Parkplatz. Wie fast immer war hier alles voll.
Sie parkte vor der Nummer 13 in zweiter Reihe und schleppte ihre Tasche durch den strömenden Regen in den Hausflur. Dann stieg sie wieder ins Auto und suchte in der Umgebung nach einem Parkplatz. Sie hatte Glück und konnte eine Straße weiter parken.
Ihr Regenschirm lag natürlich noch in Glückstadt in Marks Wohnung – wie so vieles. Irgendwann musste sie sich dem Ganzen stellen und ihre Sachen bei Mark abholen, aber definitiv nicht heute.
Da sie Marks Wohnung überstürzt verlassen hatte, konnte sie nur von Glück reden, dass sie auf ihren Wellnesstrip deutlich zu viele Klamotten mitgenommen hatte. So hatte sie in dieser Woche wenigstens genug zum Anziehen.
Sie zog die Kapuze über den Kopf und lief durch den Regen zum Eingang der Nummer 13. Als sie den großen Flur betrat, war sie klatschnass. Sie zog die Jacke aus und schüttelte den Regen ab. Dann nahm sie ihre Sachen und stapfte die Treppen hoch bis in den dritten Stock.
Schon vom Treppenabsatz aus konnte sie durch die Glasfenster in der Tür sehen, dass J telefonierte. Sie hatten noch eines dieser alten Schnurtelefone. Das gute Stück war zwar etwas klobig, hatte aber den unschätzbaren Vorteil, dass man anhand des Kabels jederzeit genau feststellen konnte, wo sich das Teil gerade befand. Lästiges Suchen fiel damit schon mal aus.
Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloss und hörte J sagen: „So Thomas, ich muss jetzt Schluss machen – meine zauberhafte Mitbewohnerin kommt gerade nach Hause. Wir schnacken dann morgen weiter. Grüß die Jungs von mir und treibt es nicht zu doll.“
Er legte auf und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihr um. „Hallo, Fräulein Abendrot. Mit Ihnen habe ich frühestens am Sonntagabend gerechnet! Cool, dass du jetzt schon hier bist.“
Sie verzog das Gesicht. „Ja, ich bin auch froh, dass ich endlich wieder hier bin.“
Er sah sie prüfend an. „Hey Vici, was ist denn los? Du siehst ja aus, als hättest du geweint.“
Und schon schossen ihr die Tränen wieder in die Augen. „Na toll!“
Sie hatte sich so bemüht, wütend zu sein. Aber jetzt war sie einfach nur fertig und fühlte sich jämmerlich allein auf der Welt. „Ich habe Mark mit einer anderen im Bett erwischt“, schluchzte sie.
„Oh nein – so ein Schwein!“ J legte fürsorglich seinen Arm um sie. „Ich mache uns jetzt erst mal einen Tee und dann erzählst du der Reihe nach. Wenn du fertig bist, trinken wir ein Glas von meinem Lieblingswhiskey und dann lästern wir so richtig über diesen Scheißkerl ab.“
So war J: Er hatte auf alles eine Antwort und wusste immer, was ihr gerade gut tat.
Sie brauchte zwei Tassen Tee, um alles los zu werden.
Sie umfasste den warmen Becher mit beiden Händen und sagte leise: „Das Schlimme ist, dass ich irgendwie denke, dass ich einfach nicht genug Frau für ihn war und dass…“
„Halt Stopp!“, unterbrach J sie nun zum ersten Mal. Er schaute sie ernst an. „Das darfst du nicht einmal denken. Der Kerl hat nicht kapiert, was für ein Riesenglück er mit dir hat. Er ist ein Vollidiot und hat dich einfach nicht verdient. Also suche die Schuld bitte nicht bei dir, Vici.“
Victoria lächelte schief. „Oh Mann, warum kann ich mich denn nicht zur Abwechslung mal in dich verlieben? Du bist wenigstens nicht so ‘n Arsch.“
J grinste und sagte trocken: „Wenn das mal kein Kompliment ist! Vielleicht sollte ich das bei meinem nächsten Date einfließen lassen: «Hi, ich bin J und ich bin nicht so ‘n Arsch.» Dann liegen mir die Damen bestimmt scharenweise zu Füßen. Nein Victoria,
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