Heidi und andere klassische Kindergeschichten
gemästete Kalb her und schlachtet es und lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war verloren und ist wieder gefunden worden.’ Und sie fingen an, fröhlich zu sein.”
“Ist denn das nicht eine schöne Geschichte, Großvater?”, fragte Heidi, als dieser immer noch schweigend dasaß und es doch erwartet hatte, er werde sich freuen und verwundern.
“Doch, Heidi, die Geschichte ist schön”, sagte der Großvater; aber sein Gesicht war so ernsthaft, dass Heidi ganz stille wurde und seine Bilder ansah. Leise schob es noch einmal sein Buch vor den Großvater hin und sagte: “Sieh, wie es ihm wohl ist”, und zeigte mit seinem Finger auf das Bild des Heimgekehrten, wie er im frischen Kleid neben dem Vater steht und wieder zu ihm gehört als sein Sohn.
Ein paar Stunden später, als Heidi längst im tiefen Schlafe lag, stieg der Großvater die kleine Leiter hinauf; er stellte sein Lämpchen neben Heidis Lager hin, so dass das Licht auf das schlafende Kind fiel. Es lag da mit gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht vergessen. Auf seinem rosigen Gesichtchen lag ein Ausdruck des Friedens und seligen Vertrauens, der zu dem Großvater reden musste, denn lange, lange stand er da und rührte sich nicht und wandte kein Auge von dem schlafenden Kinde ab. Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut sagte er mit gesenktem Haupte: “Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir und bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen!” Und ein paar große Tränen rollten dem Alten die Wangen herab.—
Wenige Stunden nachher in der ersten Frühe des Tages stand der Alm- Öhi vor seiner Hütte und schaute mit hellen Augen um sich. Der Sonntagmorgen flimmerte und leuchtete über Berg und Tal. Einzelne Frühglocken tönten aus den Tälern herauf, und oben in den Tannen sangen die Vögel ihre Morgenlieder.
Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück. “Komm, Heidi!”, rief er auf den Boden hinauf. “Die Sonne ist da! Zieh ein gutes Röcklein an, wir wollen in die Kirche miteinander!”
Heidi machte nicht lange; das war ein ganz neuer Ruf vom Großvater, dem musste es schnell folgen. In kurzer Zeit kam es heruntergesprungen in seinem schmucken Frankfurter Röckchen. Aber voller Erstaunen blieb Heidi vor seinem Großvater stehen und schaute ihn an. “O Großvater, so hab ich dich nie gesehen”, brach es endlich aus, “und den Rock mit den silbernen Knöpfen hast du noch gar nicht getragen, oh, du bist so schön in deinem schönen Sonntagsrock.”
Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und sagte: “Und du in dem deinen; jetzt komm!” Er nahm Heidis Hand in die seine, und so wanderten sie miteinander den Berg hinunter. Von allen Seiten tönten jetzt die hellen Glocken ihnen entgegen, immer voller und reicher, je weiter sie kamen, und Heidi lauschte mit Entzücken und sagte: “Hörst du’s, Großvater? Es ist wie ein großes, großes Fest.”
Unten im Dörfli waren schon alle Leute in der Kirche und fingen eben zu singen an, als der Großvater mit Heidi eintrat und ganz hinten auf der letzten Bank sich niedersetzte. Aber mitten im Singen stieß der zunächst Sitzende seinen Nachbar mit dem Ellenbogen an und sagte: “Hast du das gesehen? Der Alm-Öhi ist in der Kirche!”
Und der Angestoßene stieß den Zweiten an und so fort, und in kürzester Zeit flüsterte es an allen Ecken: “Der Alm-Öhi! Der Alm- Öhi!”, und die Frauen mussten fast alle einen Augenblick den Kopf umdrehen, und die meisten fielen ein wenig aus der Melodie, so dass der Vorsänger die größte Mühe hatte, den Gesang schön aufrechtzuerhalten. Aber als dann der Herr Pfarrer anfing zu predigen, ging die Zerstreutheit ganz vorüber, denn es war ein so warmes Loben und Danken in seinen Worten, dass alle Zuhörer davon ergriffen wurden, und es war, als sei ihnen allen eine große Freude widerfahren. Als der Gottesdienst zu Ende war, trat der Alm-Öhi mit dem Kinde an der Hand heraus und schritt dem Pfarrhaus zu, und alle, die mit ihm heraustraten und die schon draußen standen, schauten ihm nach, und die meisten gingen hinter ihm her, um zu sehen, ob er wirklich ins Pfarrhaus eintrete, was er tat. Dann sammelten sie sich in Gruppen zusammen und besprachen in großer Aufregung das Unerhörte, dass der Alm-Öhi in der Kirche erschienen war, und alle schauten mit Spannung nach der Pfarrhaustür, wie der Öhi wohl wieder herauskommen werde, ob in Zorn und
Weitere Kostenlose Bücher