Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
nicht eine Alternative angeboten wurde. Schließlich gebe es eine andere Behandlungsform, die nicht nur billiger, sondern auch schonender sei. Die Chancen, die nächsten fünf Jahre zu überleben, unterscheiden sich bei beiden Therapien nur um drei Prozent.
Der statistisch errechnete Vorteil einer neuen Behandlung kommt bei Patienten längst nicht immer als erlebter Gewinn an. »Es wird viel Geld für wenig klinischen Nutzen ausgegeben«, sagt Christoph Rochlitz, Chefarzt der Krebsmedizin am Universitätsspital Basel. »Das verschärft sich seit Jahren.« Längst haben sich Onkologen daran gewöhnen müssen, dass Erfolge in der Tumortherapie manchmal ziemlich bescheiden ausfallen. Aus dem »Krieg gegen den Krebs«, den US-Präsident Richard Nixon 1971 erklärte und für den er 100 Millionen Dollar zusätzlich für die Krebsforschung bewilligte, ist ein zermürbender Stellungskampf geworden, bei dem nicht immer klar ist, ob er für Patienten einen Vorteil bietet und wie teuer ein paar Tage mehr Leben erkauft werden.
Deutlich wurde dies auf dem weltgrößten Krebskongress, dem Treffen der American Society of Clinical Oncology (ASCO) in den USA, das jährlich 30000 Krebsexperten aus aller Welt anzieht. Ein Höhepunkt der Tagung war 2008 der Bericht europäischer Onkologen, die Patienten mit fortgeschrittenem Lungenkrebs mit einer neuen Medikamentenkombination behandelt hatten. [10] Wurde die neue Antikörpertherapie mit Cetuximab (Erbitux) zusätzlich zu den Zytostatika Cisplatin and Vinorelbin gegeben, überlebten Patienten im Mittel 1,2 Monate länger, 36 Tage. Niemand sollte sich anmaßen, den Wert von fünf Wochen Leben für einen Todkranken zu bemessen. Doch die Krebskranken litten öfter an Fieber, das mit einem bedrohlichen Mangel an weißen Blutkörperchen einherging. Sie klagten häufiger über Hautrötungen, bekamen Durchfall und vertrugen die Infusion seltener. Die Lebensqualität der Patienten während der Therapie wurde für die Studie nicht erhoben. In dem »Lancet«-Beitrag – das Magazin gehört mit dem »New England Journal of Medicine« und dem »JAMA« zu den drei besten medizinischen Fachzeitschriften weltweit – ist von einem »neuen Standard« in der Therapie von Lungenkrebs die Rede. In der Ankündigung auf dem ASCO-Kongress hieß es, die Daten werden »wahrscheinlich entscheidenden Einfluss auf die Betreuung der Patienten« haben.
Haben sie das tatsächlich? »Die einzig vernünftige Schlussfolgerung lautet doch, dass eine vermeintliche neue Wunderwaffe gegen den Krebs gigantisch danebengetroffen hat«, so der Onkologe Tito Fojo und die Ethikerin Christine Grady von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA. [11] »Solche Ergebnisse führen zu der viel dringlicheren Frage: Was zählt als Erfolg in der Krebstherapie?« Welchen Preis ist ein so geringer Nutzen wert?
»Statistisch signifikant heißt nicht immer, dass es wichtig für Patienten ist«, sagt Krebsarzt Herbert Kappauf aus Starnberg, der als Psychoonkologe Menschen mit Tumoren begleitet. »Es wird immer weniger mit Patienten besprochen, was ihnen bevorsteht – stattdessen sagen Ärzte: Wir haben da noch was.« Aus Sicht der Patienten ist die Frage hingegen eindeutig: »Krebskranke wollen wissen, wie viel Zeit sie durch eine Therapie gewinnen – und wie sehr sie dabei beeinträchtigt werden«, sagt Onkologe Rochlitz. »Das muss noch viel mehr Thema unter uns Ärzten werden.«
Fragwürdige Therapieerfolge sind kein Einzelfall in der Krebstherapie. Die amerikanische Medikamentenbehörde FDA ließ Cetuximab auch für die Behandlung von fortgeschrittenem Dickdarmkrebs zu – dadurch überleben Patienten im Mittel 1,7 Monate länger. Während der Therapie klagen aber 85 Prozent der Patienten über Hautschäden, 19 Prozent davon über Schäden dritten bis vierten Grades.
Die Liste lässt sich fortsetzen. Bevacizumab – als Avastin bekannt – wurde zum Standardzusatz in der Chemotherapie gegen eine Form von Lungenkrebs. Die FDA begründete dies mit einer verlängerten Überlebenszeit von zwei Monaten. Krebsexperten zweifelten den Nutzen an, denn andere Untersuchungen hatten ergeben, dass lediglich das Tumorwachstum um 0,6 bis 0,4 Monate gebremst, die Lebenszeit aber nicht verlängert wird.
Bei Pankreaskrebs führt der Zusatz von Erlotinib (Tarceva) zu einer verlängerten Überlebenszeit von ganzen zehn Tagen. Während der Therapie treten allerdings mehr Rötungen, Infektionen, häufiger Durchfall und
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