Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
Mundentzündungen auf. »Solche Beispiele sollten Onkologen aufrütteln«, fordern Fojo und Grady. »Es wäre erfreulich, Medikamentenwirkungen besser vorhersagen zu können«, wünscht sich Gerhard Ehninger, langjähriger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO). »Dann könnte die Behandlung zumindest bei Patienten unterbleiben, die keinen Nutzen davon haben – und für behandelte Patienten ergäbe sich ein größerer Effekt.« Krebsexperten hoffen, dass in Zukunft maßgeschneiderte Therapien zur Verfügung stehen und Ärzte früh erkennen, welche Patienten von einer Behandlung profitieren und welche nicht. Herbert Kappauf ist jedoch skeptisch, was die Erfolge dieser »targeted therapy«, also der zielgerichteten Behandlung angeht. »Diese militärischen Begriffe sind Etikettenschwindel wie auch der ›Krieg gegen Krebs‹«, sagt der Onkologe. »Viel spezifischer sind die neuen Therapien auch nicht, es gibt vielmehr große Kollateralschäden, um in der Armeesprache zu bleiben.«
Manche Patienten sagen von sich aus, dass vier Wochen länger zu leben kein Gewinn ist, wenn nicht sicher sei, dass die Mittel überhaupt ansprechen. Ein zu hoher Preis, um dem Tod noch ein paar Tage abzutrotzen. Die finanziellen Kosten für die fragliche Zugabe an Leben sind ebenfalls enorm. Einen Patienten mit Lungenkrebs 18 Wochen mit Cetuximab zu behandeln kostet 80000 Dollar. Die Behandlung mit Bevacizumab kostet pro Patient 90000 Dollar. Fojo und Grady haben errechnet, dass es 440 Milliarden Dollar kosten würde, das Leben der 550000 Amerikaner, die jährlich an Krebs sterben, um ein Jahr zu verlängern.
»Je unkritischer aufgebauschte Erfolge präsentiert werden, umso mehr werden diese Mittel im Alltag eingesetzt«, fürchtet Kappauf. Dann werde nicht gefragt, ob der Patient einen Nutzen davon hat und der Arzt zum Marketingtrottel der Pharmaindustrie wird. »Das Problem der Sterblichkeit kann man nicht wegtherapieren«, sagt Onkologe Kappauf. »Wenn Ärzte neue Therapien mit immer geringerem Nutzen anbieten, kommt es zur komplizenhaften Verdrängung.« Ärzte wie Patienten wollten nicht wahrhaben, dass sich der Tod manchmal nicht mehr verhindern lässt.
Die Krebstherapie ist an ihre Grenzen gestoßen. Medizinisch können bei weitem noch nicht alle Tumore gut behandelt werden. Die Prognose bei etlichen Krebsarten – etwa der Bauchspeicheldrüse, des Gehirns, der Gallenblase oder der Lunge – ist schlecht. Die immer teurer werdende Krebsversorgung hat jedoch überall auf der Welt Folgen: In ärmeren Ländern haben längst nicht alle Menschen Zugang zu einer onkologischen Versorgung. Und in den reicheren Ländern stellt sich immer häufiger die Frage, für welchen Fortschritt in der Behandlung welcher Aufwand gerechtfertigt ist. Experten haben das Dilemma in einer fast 50-seitigen Analyse nachgezeichnet. [12] Die Mediziner fordern einen radikalen Wechsel. Dass die Politik es toleriert, wenn Menschen ungleichen Zugang zur Krankenversorgung haben, könne nicht länger hingenommen werden. Auch ginge es nicht, einen kleinen Zusatznutzen in der Therapie zu jedem Preis zu akzeptieren, so die Forscher.
Medizin mit dem Preisschild
Opfer einer Medizin mit dem Preisschild sind meist die Patienten. Es geht schließlich auf ihre Kosten, wenn in Krankenhäusern und Praxen gespart wird. Einige Konsequenzen für Kranke sind naheliegend: Wird eine Station nur von zwei statt drei Ärzten und von vier statt sechs Pflegekräften versorgt, kann die Betreuung leiden – Verwechslungen und Fehler kommen häufiger vor, wenn Personal fehlt. Zudem wird es unter Zeitdruck schwieriger, Kranke menschlich zu betreuen. Wird die Arbeit zu viel, bleibt am ehesten auf der Strecke, was wesentlich für gute Medizin ist: Zeit für Zuwendung, Zuhören und Trost.
Ein anderer Aspekt der zunehmenden Ökonomisierung im Gesundheitswesen: Immer häufiger stehen Kosten-Nutzen-Abwägungen des ärztlichen Tuns im Vordergrund. Damit sind nicht allein die gesundheitlichen Vor- und Nachteile gemeint, die eine medizinische Intervention für den Patienten hat. Krankenhausärzte erfahren von den kaufmännischen Direktoren und Geschäftsführern ihrer Kliniken regelmäßig, welche Operationen und Therapien lukrativ sind und bei welchen das Krankenhaus draufzahlt. Längst ist es üblich, dass Chefärzten von den Sparkommissaren ihrer Kliniken nahegelegt wird, bevorzugt zu behandeln, was Geld bringt. Mittlerweile bekommen mindestens
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