Henkerin
Aber es ist gut, sich seiner Angst bewusst zu sein. Nur so kannst du im entscheidenden Moment richtig handeln.«
»Du hast sicher recht, Vater.« Rudger wendete sein Pferd und kehrte auf seine Position am Ende des Zuges zurück. Vater hatte seine Worte gut gewählt, aber zwischen seinen Schultern kribbelte es trotzdem. Genau wie damals, als er den Bären erlegt hatte, der sich lautlos angepirscht und dann erbarmungslos zugeschlagen hatte. Rudger hatte die Gefahr gespürt. So wie jetzt. Am liebsten hätte er seinen Vater zur Umkehr bewegt, aber das war aussichtslos. Er musste sich zusammennehmen. Die Späher hatten nichts gefunden, also war da auch nichts.
***
Melisande seufzte. Rudger hatte es gut, er durfte reiten, musste nicht hier in dem engen, harten Wagen die Zeit totschlagen.
»Warum reisen so viele Bewaffnete mit uns, Mutter?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.
»Der Wald ist tief, es gibt Räuber, gegen die wir uns schützen müssen, das weißt du doch.«
Melisande setzte zum Sprechen an, aber rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie besser schweigen sollte. Sonst hätte sie sich verraten. Sie hatte ihre Eltern vor zwei Tagen belauscht, rein zufällig.
Vater und Mutter hatten auf dem Flur gestanden und miteinander gesprochen. Sie bemühten sich zwar zu flüstern, doch Melisande konnte sie durch die angelehnte Tür gut verstehen. Ein Astloch ermöglichte ihr sogar den Blick auf den Flur.
»Ich traue ihm nicht«, hatte Vater gesagt und die Faust geballt.
Mutter hatte ihm widersprochen. »So etwas würde auch ein Ottmar de Bruce nicht wagen. Du siehst Gespenster. Außerdem muss ihm klar sein, dass wir keine Schuld tragen. Es war Notwehr. Jeder weiß das. Die Söldner kosten viel Geld, sehr viel Geld. Wie willst du das aufbringen? Du erschöpfst unsere ganzen Reserven für diesen Irrsinn. Wenn die Trockenheit anhält, brauchen wir das Geld für Lebensmittel und Viehfutter. Außerdem komme ich mir schon vor wie eine Gefangene. Nirgends kann ich hingehen ohne waffenstarrende Söldner an meiner Seite.« Mutter schüttelte den Kopf. »Das ist Verschwendung. Wir brauchen nicht so viele Männer. Er würde niemals wagen ...«
»Du hast ihn nicht erlebt. Ottmar de Bruce ist vollkommen wahnsinnig geworden. Niemand glaubt seine Anschuldigungen, das ist wahr. Das ist aber auch gar nicht nötig. Es reicht, wenn er sie selbst glaubt. Ich könnte es nicht ertragen, dich oder eins meiner Kinder zu verlieren. Ihr seid mehr wert als alles Geld der Welt. Sollte er wirklich so verrückt sein, uns anzugreifen – diese Männer sind hervorragende Kämpfer, die mit jedem Gegner fertig werden.« Vater nahm Mutter in die Arme.
Sie klammerte sich an ihn. »Niemand wird mit jedem Gegner fertig. Das weißt du genau«, flüsterte sie.
»Das mag sein. Aber de Bruce hat weder Moral noch Glauben. Das macht ihn schwach. Gott steht auf der Seite der Gerechten.«
Melisande kannte ihren Vater und wusste, wann er etwas meinte, wie er es sagte. Der letzte Satz bedeutete eindeutig: »Wenn es nur so wäre.«
»Er wird es nicht wagen, niemals ...« Mutters Stimme versickerte in den Wänden.
»De Bruce ist zu allem fähig. Er beschuldigt mich eines Verbrechens, das ich nicht begangen habe«, zischte Vater und löste sich von Mutter. »Seit Generationen sind unsere Familien verfeindet. Und warum? Weil die de Bruce gierige Betrüger sind.«
»Nicht alle, Konrad, nicht alle. Das weißt du genauso gut wie ich. Gernot hätte nicht sterben müssen. Er war doch noch ein dummer Junge.«
Melisande sah, wie sich die Augen ihres Vaters zu Schlitzen verengten. Bevor er richtig wütend werden konnte, legte ihre Mutter einen Finger auf seine Lippen. »Glaubst du, ich würde sein Leben gegen das deine tauschen wollen?« Sie lächelte, und Konrad entspannte sich.
»Aber denke an de Bruce’ Großvater«, fuhr die Mutter fort. »Er hat versucht, zwischen den Familien Frieden zu stiften. Und warum ist er gescheitert? Weil dein Vater sich nicht einen Schritt bewegt hat. Und wir alle müssen dafür büßen. Es ist furchtbar.«
Konrad Wilhelmis verzog das Gesicht. »Du magst richtigliegen, aber trotzdem sind nicht wir es gewesen, die die Fehde begonnen haben. Es ist, wie es ist, und solange Ottmar de Bruce lebt, werden wir keine Ruhe finden. Du weißt, wie grausam er ist, wie er seine Leute behandelt. Noch vor wenigen Wochen hat er einen Knecht totpeitschen lassen, der es gewagt hat, ihm zu widersprechen. Wir sind bereit. Soll er nur kommen, er wird es
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