Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition)
Kopf weit in den Nacken legen musste um die goldene Aufschrift zu entziffern.
An dieser Stelle stand bis 1849 das Haus in welchem Mozart am 5. Dezember 1791 gestorben ist.
Er sah um sich, suchte nach etwas Vertrautem, etwas, das er hätte greifen, begreifen können. Sein Unterkiefer tremolierte ohne Unterlass, er sank auf die Knie, legte die Hände auf den schwarzen rauen Steinboden, der die gesamte Gasse bedeckte wie eine Grabplatte, riss an den Kantsteinen, die das Trottoir begrenzten, kratzte mit den Nägeln in den schmalen Fugen dazwischen, als müsse er die schwarze Schicht nur aufreißen, um darunter die wackligen Platten des Gehsteigs und schließlich den festgestampften lehmigen Boden der vertrauten Straße zutage zu fördern.
»Haben Sie etwas verloren?«
Er sah auf. Im Portalbogen des Hauses stand eine Person, dem Mezzosopran ihrer Stimme nach eine Frau, und sah ihm über den Rand schwarzer Augengläser hinweg zu. Er starrte zurück, merkte, dass sie auf eine Antwort wartete, nickte unaufhaltsam.
»Ihre Kontaktlinsen?«
Er rappelte sich mühsam hoch, wich einen Schritt zurück, sein Blick glitt haltlos an der Frau empor, verfing sich in ihren Stiefeln, den engen blauen Hosen, dem weißen Hemd mit Kragen. »Bitte, Madame, ich darf sie allerhöflichst ersuchen, mir zu sagen, welcher Tag heute wohl sein möchte?«, brachte er hervor.
»Dienstag.«
»Und das Datum, ich bitte Sie, ich muss es nötigst wissen!«
»Der fünfte, glaube ich, oder?«
»Decembris?«
»Ja, geht’s Ihnen gut?« Ihr Ton war eine Terz tiefer gesackt.
»Ich bitte inständigst, Madame, welches Jahr schreiben wir?«
»Jetzt gehst von den Schaufenstern fort, du vergraulst mir ja die Kundschaft!«
Die Tür schloss sich hinter ihr, er konnte sehen, wie sie den beleuchteten Raum durchquerte, sich kopfschüttelnd noch einmal umdrehte. In ihrem Gesicht lag Abscheu.
Er zog den Kopf ein, humpelte weiter, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. An der Stelle, wo der Torbogen seines Hauses hätte sein sollen, sank er auf Ennos Sack, umarmte seine Knie wie einst die Taille seiner Mutter, legte den Kopf darauf und weinte, bis die Kälte seine nasse Haut verbrannte.
***
Anju hatte gerade den Treppenabsatz erreicht, als sie merkte, dass das Gekeife im Stiegenhaus von der alten Sittenthaler stammte, die mit ihrem Gehstock auf die vor der Tür der Wohngemeinschaft aufgestapelten Müllsäcke einschlug.
»Da ist es ja, das Fräulein!«, kreischte die Alte, die ihr auf der Treppe entgegenkam, wobei sie mit ihrem Gehstock in der Luft herumhieb. Anju hatte Frau Sittenthaler noch nie ohne Stock gehen sehen und war erstaunt, wie wacker sie ihre Waffe schwang; sie wich zur Wandseite aus, doch die Treppe war nicht breit genug, als dass sie an der keifenden Alten vorbeigekommen wäre.
»A saubere Bagage ist mir das! So ein Lärm die ganze Nacht! Und der Gestank hier im Stiegenhaus! Aber das wird ein Nachspiel haben, das sag ich Ihnen! Hausfriedensbruch ist das, jawohl!« Der Stock kam näher, gleich würde sie auf Anju einprügeln. Nach unten ausweichen wollte Anju nicht, sie hatte es nicht nötig, sich von diesem Hausschreck in die Flucht schlagen zu lassen.
Blitzschnell packte sie den Gummistopfen am Ende des Stocks, es war, als hielte sie Frau Sittenthaler am ausgestreckten Arm. »Falls es Sie interessiert: Ich habe dieses Haus in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht betreten. Lassen Sie mich also mit Ihrem Geschrei in Ruhe.« Sielupfte den Stock an und schlüpfte darunter durch. »Einen schönen, guten Morgen, Frau Sittenthaler«, rief sie der verdutzten Alten zu. Mit dem Fuß musste sie zwei Müllsäcke beiseiteschieben, ehe sie die Wohnungstür öffnen konnte. Sie seufzte. Seit Tagen schien sich alles gegen sie verschworen zu haben.
Drinnen schlug Anju ein widerlicher Geruch aus kaltem Rauch, schalem Bier und Essensresten entgegen. Sie war beinahe schon in ihrem Zimmer, als Enno aus dem Wohnzimmer trat.
»Hey, Anju ist da!«, rief er mit übertriebener Fröhlichkeit, griff ihren Arm und versuchte, sie Richtung Küche zu ziehen. »Komm, kannst uns ein bisschen beim Saubermachen helfen, ja?«
»Das wäre dir recht.« Lachend schüttelte sie ihn ab. »Das dürft ihr schön allein tun.«
Jost tauchte aus der Küche auf, ein Spültuch über der Schulter. Anju bemerkte, wie er einen raschen Blick mit Enno wechselte.
»Hallo, Anju, komm, ich mach dir einen Tee.«
»Was ist mit euch los?« Sie sah von einem zum anderen. Jost musste krank
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