Herr Mozart wacht auf: Roman (German Edition)
Becher der Thermoskanne umklammert, blies in den aufsteigenden Dampf und ließ die Wärme durch seine fingerlosen Handschuhe dringen. Die Domuhr zeigte halb vier, kaum Zeit mehr bis zur Dämmerung.Zu spät, sich einen günstigeren Platz zu suchen. Resigniert warf er einen Blick in das praktisch leere rote Samtfutteral. Der Nachmittag war verschwendet. Auch dem Abend würde es nicht gelingen, ihn mit diesem Tag zu versöhnen, jetzt, wo Wassili ausgefallen war und sich auf die Schnelle kein Ersatz auftreiben ließ. Piotr zog kraftvoll die kalte Luft in seine Nase und klemmte die Geige unters Kinn. Obwohl seine Finger schon wieder klamm waren, versuchte er sich erneut an jenem unerbittlichen Rondo, denn nur wenn ihn die Konzentration ganz ausfüllte, blieb für düstere Gedanken kein Platz. Also spielte er, Note für Note, wohl wissend, dass es nicht die Kälte war, die seine Darbietung so kümmerlich machte. Er war ohnehin der Einzige, der seine Patzer bemerkte.
»Bravo!«
Ein einzelnes, kräftiges Klatschen ließ ihn aufschrecken. Vor ihm stand ein verstrubbelter, unrasierter Typ in einer viel zu großen Strickjacke, eine Plastiktüte zwischen den Füßen, und strahlte ihm mit so unbändiger Direktheit entgegen, dass Piotr den Blick abwenden musste. Der Kerl hatte eine Haut wie eingefallener Hefeteig und reichte ihm allerhöchstens bis zum Kinn.
Piotr beugte kurz den Kopf in seine Richtung, ließ dann den Blick über die Passanten schweifen, die teilnahmslos vorbeihasteten. Es war aussichtslos, der Kasten blieb heute leer. Er bückte sich und legte die Geige in den roten Samt.
»Spielt doch, so bitt ich Euch, spielt weiter!« Der andere kam näher, mit ihm, trotz der Kälte, ein herber Geruch von Schweiß, muffiger Wäsche und Bier.
Piotr wich zurück. »Muss ich gehen jetzt.«
»Oh, nur ein einziges, winzig kleines Stückchen. So Ihr denn wollt … etwas von – Mozart?« Der merkwürdige Zuhörer sah ihn mit dem Ausdruck eines Kleinkindes an, das sich vor einem Gewitter fürchtet. »Ihr kennt ihn doch? Wolfgang Amadé Mozart?«
»Klar.« Piotr musterte den Typen genauer. Er sah nicht aus wie die Touristen, die nach Mozart oder Strauß fragten, ohne dass sie den einen vom anderen hätten unterscheiden können, sondern allenfalls wie ein gewöhnlicher Penner, möglicherweise war er einfach jemand, dem beim Müll Hinunterbringen die Haustür zugefallen war.
»Gut.« Piotr nahm die Geige wieder auf und spielte das Allegro, das er vor ein paar Tagen hervorgekramt hatte, obwohl er wusste, dass es so schlecht saß wie die Kleider seines Zuhörers. Piotr liebte das Stück, so wie man eine unerreichbare Liebe aus der Ferne bewundert, stets wissend, dass man sie nie für sich gewinnen wird.
Während er mit der Phrasierung kämpfte, warf er einen Blick auf seinen einsamen Zuhörer und sah verblüfft, wie sich dessen noch immer strahlende Augen röteten und glasig wurden, wie er sich mit dem Ärmel darüberwischte, und hörte ihn schniefen. Solche sentimentalen Ausbrüche erlebte Piotr nur bei Betrunkenen, er beschloss, ihn nicht weiter zu beachten. Doch dann riss er die Augen auf: Dieser Typ dirigierte ihn mit seligem Lächeln! Und jedes Mal, wenn Piotr der Bogenwechsel missriet oder eine Verzierung holperte, verzog der Kleine das Gesicht, als hätte man ihm den Geigenbogen in den Leib gerammt.
Noch bevor er zu Ende gespielt hatte, drehte der andere sich zu den Passanten um, ließ wie ein erschlaffter Hampelmann die Arme sinken und wandte sich erst wieder Piotr zu, als der letzte Ton verklungen war.
»Ihr habt ein artigeres Publikum verdient! Was tut einer wie Ihr hier auf der Straße, bei solch gottloser Kälte obendrein?«
Piotr blieb nichts übrig, als zu lachen. »Spielen, przyjaciel, spielen.« Piotr wies auf die wenigen Münzen im aufgeklappten Geigenkasten. »Und verdienen bisschen Geld.«
Der Penner hielt ihm mit einem Achselzucken die Handflächen entgegen, doch Piotr schüttelte den Kopf und strichabwehrend mit seiner Rechten durch die Luft. »Hast du zugehört, ist genug.«
»Aber was ist mit jenen?«, fragte der Kleine und zeigte auf die Menschenmenge.
»Oh, hören sie auch zu«, entgegnete Piotr und verzog spöttisch die Lippen. »Passt du auf!« Er deutete auf ein Geschwader koreanischer Touristen und spielte ein paar Takte an. Auf der Stelle begann der gesamte Trupp dem Geigenspiel entgegenzuschnattern. Einige von ihnen wackelten im Takt und lachten einander mit winzigen, hektischen Kopfbewegungen
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