Herz im Spiel (German Edition)
die Akademie zurück, etwas wegen Miss Prince und dem wenigen, das sie über ihr Verschwinden wusste, zu unternehmen. In Kingsbrook, unter Desmonds grässlichem Einfluss – den sie allerdings nur so nennen konnte, wenn sie sich nicht in seiner Gegenwart befand – war sie ohnmächtig und hätte nicht gewusst, welche Maßnahmen sie ergreifen sollte.
Aber an der Farnham-Akademie gab es Menschen, die ihr helfen konnten, Autoritätspersonen, die Sylvia finden und Desmond zur Rechenschaft ziehen würden.
Marianne straffte die Schultern und vergeudete keine Zeit. Sie stellte die Taschen im Schlafsaal ab und suchte Mrs Avery. Marianne war sicher, dass eine junge Frau, der Unrecht geschehen war, keine bessere Beschützerin finden konnte.
„Mrs Avery, da ist etwas … Ich muss mit Ihnen sprechen. Verstehen Sie, während der Weihnachtsferien habe ich eine Entdeckung gemacht. Etwas, das Sie wissen müssen …“ Marianne war fest entschlossen gewesen, doch nun hielt sie inne. Selbst jetzt fiel es ihr noch furchtbar schwer, ihren Vormund zu beschuldigen.
„Worum handelt es sich, Miss Trenton?“, fragte die Schulleiterin, um sie zum Weitersprechen zu bewegen.
„Also, ich habe etwas herausgefunden, das mich zu der Überzeugung gebracht hat, dass mein Vormund, Mr Desmond, etwas mit …“
Jemand klopfte an Mrs Averys Tür und unterbrach Mariannes zögernd vorgebrachte Anschuldigungen. Ohne auf eine Aufforderung zum Eintreten zu warten, steckte Mrs Grey den Kopf zur Tür herein. „Da ist ein Gentleman, der Sie sehen möchte, Mrs Avery“, meinte die zierliche Lehrerin schüchtern.
Erstaunt blickte die Direktorin auf. Die Herren, mit denen sie in Schulangelegenheiten zu tun hatte, kamen zu im Voraus festgelegten Zeiten. Heute standen keine solchen Termine an. „Wer ist es?“, fragte sie.
„Es ist Kapitän Prince. Er ist gekommen, um die Sachen seiner Tochter zu holen“, erklärte Mrs Grey.
Marianne drehte sich um und blickte Mrs Grey ungläubig an. „Sylvias Vater?“, platzte sie heraus.
Mrs Grey nickte. „Er sagt, Miss Prince werde nicht an die Akademie zurückkehren. Und sie brauche ihre Kleidung und ihre Bücher.“
„Sicher, selbstverständlich“, sagte Mrs Avery. „Ich hatte allerdings keine Ahnung, dass Miss Prince mit der Akademie nicht zufrieden war. Ist sie hier unglücklich gewesen, Mrs Grey?“ Abgelenkt durch diese überraschende Entwicklung, stand die Schulleiterin auf und hatte Miss Trenton einen Augenblick vergessen.
„Nicht, dass ich wüsste. Allerdings hat sie uns ziemlich überstürzt verlassen“, pflichtete Mrs Grey ihr bei.
Immer noch erstaunte Bemerkungen wechselnd, gingen die beiden Lehrerinnen hinaus. Aber sie konnten nicht so verblüfft sein wie Marianne, die reglos dastand und ihnen verwirrt nachblickte.
Sylvias Vater ist hier? Um ihre Sachen zu holen? Marianne hätte zum Unterricht zurück gemusst, aber stattdessen saß sie in Mrs Averys leerem Büro und beschäftigte sich damit, völlig unwahrscheinliche Vermutungen anzustellen.
Schließlich steckte Mrs Lynk den Kopf ins Zimmer und teilte ihr mit, alle Schülerinnen hätten eine Stunde Freizeit, sollten sich aber gleich nach dem Mittagessen in der Klasse einfinden.
Soweit Marianne wusste, hatte niemand die Direktorin gesehen, seit sie ihr Büro verlassen hatte. Doch sobald Marianne, einen Schal um die Schultern gelegt, aus dem Gebäude trat, löste sich Myrtle Thane aus der Gruppe von Mädchen, die um Judith Eastman standen, und eilte auf sie zu.
„Hast du schon gehört?“, fragte Miss Thane halblaut.
„Was denn?“, wollte Marianne wissen.
„Kapitän Prince, Sylvias Vater, ist selbst in der Schule aufgetaucht, um Sylvias Sachen abzuholen“, berichtete Myrtle.
„Ich saß gerade in Mrs Averys Büro, als er eintraf“, erwiderte Marianne.
„Ich habe gehört, es sei zu einem Wortwechsel gekommen, und danach sei Mrs Avery blass gewesen und hätte erschüttert gewirkt“, verriet ihr Myrtle mit jenem gewissen Eifer, mit dem Frauen besonders delikaten Klatsch verbreiten.
„Und von wem weißt du das?“, bedrängte Marianne sie.
Myrtle vollführte eine Handbewegung, die die Mädchen hinter ihr und allgemein das Städtchen Farnham einschloss.
Marianne war völlig verwirrt, doch es war unbestreitbar, dass Kapitän Prince an die Akademie gekommen war, um Sylvias Besitztümer abzuholen, und offensichtlich war es zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen. Niemand erfuhr, was der Kapitän der Schulleiterin gesagt
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