Hoellenfeuer
musste. Wann immer das geschah, hielt der Geist inne und bewegte sich auf sie zu, bis er sicher sein konnte, dass sie ihn erneut wahrgenommen hatte.
Schließlich verließen die beiden den Saal durch eine Seitentür, von der Eleanor wusste, dass sie in die Bibliothek des Klosters führte. Sie war in den letzten Tagen mehrfach hier gewesen, hatte jedoch schnell feststellen müssen, dass hier kaum etwas von Interesse für sie zu finden war. Die Mönche hatten viele Schriften zurückgelassen, doch handelte es sich dabei fast ausnahmslos um Schriftrollen mit asiatischen Schriftzeichen, die Eleanor nicht lesen konnte. Diese Bibliothek hatte ihr nichts zu bieten.
Helles Sonnenlicht drang durch die Fenster des Raumes, so dass Eleanor den Geist nicht länger sehen konnte. So ging sie zunächst durch den Raum und schloss die Fensterläden, damit es dunkler würde. Nachdem sie das letzte Fenster verdunkelt hatte, sah sie sich um. Der Geist befand sich nur wenige Schritte von ihr entfernt und deutete auf eines der Wandregale, in dem noch immer zahlreiche Schriftrollen lagen. Eleanor trat an die Seite des Geistes und blickte neugierig in das Regal. Die Hand des Geistes zeigte auf ein dünnes Buch, dessen Buchrücken nicht beschriftet war. Er bedeutete ihr, es aus dem Regal herauszunehmen.
„Soll ich das nehmen?“, fragte Eleanor.
Der Schatten nickte heftig. „Du lesen “, sagte er aufgeregt. „Du lesen. Dann du gehen!“
Zögernd griff Eleanor in das Regal und schlug das kleine Büchlein auf. Es handelte sich offenbar um eine Art Tagebuch. Das wichtigste aber war, dass es auf Englisch verfasst war, so dass sie die Texte lesen konnte. Eine kleine und säuberliche Handschrift war es, die vor ihren Augen über die Seiten tanzte.
22.01.1941
Der Abt unseres Klosters, der ehrwürdige Meister Yun-Go hat mir , Bruder Huang, befohlen, dieses Buch zu führen, damit belegt sei, was sich in den letzten Wochen im Kloster von Yandungai zugetragen hat. Ich soll es auf Englisch schreiben, damit es von jedem zu lesen sei, der es in Zukunft finden möge. Vor einundzwanzig Tagen begannen die ersten Mönche von Alpträumen geplagt zu werden. Sie sahen ein geflügeltes Wesen mit rot leuchtenden Augen durch ihre Träume fliegen. Es hatte einen menschlichen Körper und jagte ihnen schreckliche Angst ein. Einundzwanzig Mönche berichteten übereinstimmend über diese Träume. Bis zum heutigen Tag hat jeder Bruder in unserer Gemeinschaft diesen Traum mindestens ein Mal erleben müssen. Viele von uns haben ihn jede Nacht.
23.01.1941
Der ehrwürdige Abt Yun-Go ist sehr beunruhigt. Zwei Brüder unserer Gemeinschaft glauben, den schwarzen Dämon aus unseren Träumen draußen vor unserem Kloster gesehen zu haben. Er flog um den Gipfel des Yak-Auges und schien sie zu beobachten.
24.01.1941
Drei weitere Brüder wollen den Dämon gesehen haben, wie er von einem Felsvorsprung oberhalb des Klosters auf sie hinab starrte. Sie schrien vor Angst, als sie ihn erblickten und vermochten sich doch nicht von der Stelle zu rühren. Als andere Brüder ihnen zu Hilfe eilten, war das Wesen spurlos verschwunden.
25.01.1941
Schlimme Ereignisse haben heute stattgefunden. Unsere Gemeinschaft hatte das Kloster des Vormittags verlassen, um an der Stupa des verstorbenen Abtes Yong-Lo zu beten. Als wir zurück kamen, hockte das Wesen aus unseren Träumen auf dem Dach des Torbaus und blickte zu uns hinab. Es hatte riesige Flügel und sah böse und niederträchtig aus. Unser Abt Yun-Go sprach es an. ‚Was willst du von uns?‘, fragte er. Das Wesen fauchte ihn so bösartig an, dass viele von uns vor Schreck auf die Knie fielen. ‚Ihr werdet von hier fortgehen!‘, sagte es. Und seine Stimme war dabei so machtvoll, dass die Berge zu beben schienen. Dann entfaltete es seine Flügel und entschwand.
26.01.1941
Der Abt hat beschlossen, zu bleiben. Wir beteten den ganzen Tag um Buddhas Beistand und dass er den bösen Geist vertreiben möge. Tatsächlich sah ihn an diesem Tag niemand. Allein unsere Träume waren noch immer erfüllt von ihm.
27.01.1941
Die Brüder haben Angst. Der Dämon quält sie jede Nacht aufs Neue in ihren Träumen. Ihre nächtlichen Visionen werden immer grauenvoller. Auch mir ergeht es so. Ich wage des Nachts kaum noch die Augen zu schließen aus Furcht vor meinen Träumen. Immer mehr Brüder bitten den Abt, das Kloster aufzugeben und woanders hinzugehen. Doch er ist stark. Er will nicht weichen. Auch heute zeigte der
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