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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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immer ferner klangen die Vogelschreie und das Gekreisch der Affen, und die Welt wurde für immer trostlos. In jenem Paradies aus Feuchtigkeit und Schweigen vor dem Sündenfall, wo die Stiefel in dampfenden Ölpfützen versanken und die Buschmesser blutende Lilien und goldene Salamander köpften, wurden die Männer der Expedition von ihren ältesten Erinnerungen heimgesucht. Eine Woche lang rückten sie fast wortlos wie Schlafwandler durch ein Weltall des Alptraums, der einzige Lichtschimmer ein schwacher Widerschein von Leuchtkäfern, und ihre Lungen gedrückt von beklemmendem Blutgeruch. Zurück konnten sie nicht, weil die Schneise, die sie im Vorrücken schlugen, sich mit einem unvermuteten Lianengewirr, das sie fast wachsen sahen, rasch hinter ihnen schloß. »Macht nichts«, sagte José Arcadio Buendía. »Wichtig ist, daß wir nicht die Orientierung verlieren.« Immer dem Kompaß vertrauend, führte er seine Männer unbeirrt dem unsichtbaren Norden entgegen, bis sie endlich aus dem verhexten Waldgebiet herausgelangten. Es war eine finstere, sternlose Nacht, doch die Dunkelheit war von neuer, reiner Luft getränkt. Vom langen Marsch erschöpft, spannten sie die Hängematten auf und schliefen zum erstenmal in zwei Wochen tief. Als sie bei hohem Sonnenstand erwachten, waren sie starr vor Staunen. Dicht vor ihnen, umwachsen von Farnen und Palmen, weiß und staubig im stillen Morgenlicht, lag eine riesige spanische Galeone. Sie war leicht nach Steuerbord geneigt, von ihren ungebrochenen Masten hing zwischen der orchideengeschmückten Takelage das schmutzige Segelwerk. Der mit einem glatten Panzer aus versteinerten Saugfischen und weichem Moos überzogene Rumpf war fest in einen Steinboden gepflanzt. Das ganze Gefüge schien eine eigene Welt zu behaupten, einen Raum aus Einsamkeit und Vergessen, unversehrt von den Lastern der Zeit und den Gewohnheiten der Vögel. Im Schiffsbauch, den die Expeditionsteilnehmer mit verschwiegenem Eifer durchsuchten, fand sich nichts als ein dichter Blumenwald.
    Der Fund der Galeone, Anzeichen für die Nähe des Meeres, brach José Arcadios Schwung. Er hielt es für einen schlechten Scherz seines launischen Schicksals, daß er das Meer gesucht hatte, ohne es zu finden, und zwar um den Preis von Opfern und Mühsalen ohne Zahl, und nun, ohne es gesucht zu haben, es fand wie ein unüberwindliches Hindernis, das ihm im Weg lag. Viele Jahre später, als bereits ein regelmäßiger Postverkehr bestand, durchquerte Oberst Aureliano Buendía wieder das Gebiet, und das einzige, was er noch von dem Schiff vorfand, war ein verkohltes Gerippe in einem Mohnfeld.
    Erst jetzt davon überzeugt, daß die Geschichte nicht eine Ausgeburt der Phantasie seines Vaters gewesen war, fragte er sich, wie die Galeone so tief ins Festland hatte vorstoßen können. Doch José Arcadio Buendía zerbrach sich nicht den Kopf, als er nach weiteren vier Marschtagen, zwölf Kilometer von der Galeone entfernt, ans Meer stieß. Angesichts dieses aschgrauen, schäumenden und schmutzigen Meeres, das nicht die Gefahren und Opfer seines Abenteuers verdiente, waren seine Träume zu Ende.
    »Verdammt!« schrie er. »Macondo ist auf allen Seiten von Wasser umgeben.«
    Die Vorstellung von einem Halbinsel-Macondo, hervorgerufen von einer Landkarte, die José Arcadio Buendía willkürlich nach der Rückkehr von seiner Expedition entworfen hatte, wirkte lange bei ihm nach. Er hatte sie wütend gezeichnet und die Schwierigkeiten der Verbindung mit der Außenwelt böswillig übertrieben, wie um sich selbst für seine völlige Willkür bei der Wahl des Orts zu strafen. »Wir werden nie im Leben irgendwohin kommen«, klagte er vor Ursula. »Hier werden wir leibhaftig verfaulen, ohne die Wohltaten der Wissenschaft empfangen zu haben.« Diese in seiner Laboratoriumskammer monatelang wiedergekäute Gewißheit brachte ihn auf den Gedanken, Macondo an einen geeigneteren Ort zu verpflanzen. Diesmal kam Ursula seinen fieberhaften Plänen zuvor. Mit dem unerbittlich-geheimen Fleiß einer Ameise hetzte sie die Frauen des Dorfs gegen die Gelüste ihrer Männer auf, die sich bereits für den Umzug vorbereiteten. José Arcadio Buendía erfuhr nie, in welchem Augenblick und dank welcher widrigen Kräfte seine Pläne in ein Netz von Vorwänden, Ärgernissen und Ausflüchten gerieten, bis sie sich in eine schlichte, reine Selbsttäuschung verwandelten. Ursula beobachtete ihn mit unschuldiger Aufmerksamkeit und empfand sogar für ihn ein Gran Mitleid an

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