Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
einen Satz von sich gibt, der aus dem innersten Kern seines Wesens zu stammen scheint. Einen Satz, den er an seinen fehlfeuernden Hirnsynapsen vorbeigeschmuggelt hat und den er mir schenkt, wie ein Orakel seinen Spruch. Einen Satz wie den, der diesem Buch seinen Titel gab.
Da hatte ich Simon zugeflüstert, dass ich ihn liebe, und, der Teufel ritt mich, ich fragte ihn, ob auch er mich liebhabe. Zu meinem Erstaunen antwortete er. Er sagte: »Nein, aber ich möchte es mal können.«
Simon weià es vielleicht gar nicht, doch er hat es mehr als gelernt.
Alles noch heil oder das Wunschkind
Wenn etwas schon so lange andauert und einen noch das gesamte weitere Leben begleiten wird, ist es nicht einfach, einen Anfang zu finden. Simon ist jetzt elf. Und ich kann mir kaum mehr vorstellen, wie ein Leben ohne Autismus aussieht.
Könnte ich das Haus verlassen, wann immer ich wollte? Mal in die Stadt gehen, in ein Café? In meiner eigenen Geschwindigkeit durch die StraÃen schlendern, mich umschauen nach Dingen, die mich interessieren, mal stehen bleiben, mal weitergehen. Ohne dabei jemanden anzutreiben, der nach fünf Schritten vergisst, den sechsten zu tun, wenn ihn keiner daran erinnert? Ohne ständig durch Stimme und Geste Ruhe vermitteln zu müssen, im Minutentakt immer wieder das nächste Ziel zu benennen wie der Ansager in der StraÃenbahn, damit die Struktur fassbar bleibt? Ohne stets in Eile zu sein, damit sich nichts zu lange hinzieht, damit alles klappt, ehe das Kind einen Koller kriegt, und ohne dauernd darauf vorbereitet zu sein, laute Geräusche, Menschenansammlungen, Hunde und andere Aversionsobjekte, ja überhaupt alle möglichen Irritationen vorausschauend zu umkurven? Könnte ich Arbeiten beginnen und auch beenden, ohne tausend Unterbrechungen â »Mama, hilf mir!« Ohne die stets gespitzten Ohren, die darauf achten, was er tut, ob er Unfug macht, Dinge zerstört, Chaos anrichtet. Ohne die Geräuschkulisse von Simons permanent wiederholten Sätzen, die ohne Sinn sind, ohne sein ständiges Singen, sinnloses Lachen und ohne die plötzlichen Ausbrüche von Aggression, die ich zu ignorieren oder ganz beiläufig zu handhaben suche?
Es wäre ein Leben, ohne die eigenen Emotionen immer flach halten zu müssen. Ohne immer zusammenzuzucken: Wo ist er? Was stellt er jetzt wieder an? Ohne auf den nächsten Schrei zu warten.
Möglich ist das wohl. Aber vorstellbar?
Wo also beginnen?
Ich könnte bei Simons Geburt beginnen. Die verlief wunderbar, viel besser als die meines ersten Sohnes. Und brachte jenen rundgesichtigen, liebenswerten, ausgeglichenen, früh lächelnden Säugling hervor, über den die Ãrztin bei der U1-Untersuchung zu unserem maÃlosen Stolz sagte: »Ein schönes Kind.« Was für ein trügerischer Start.
Tatsächlich hatten wir drei glückliche Jahre mit einem kaum auffälligen, wunderhübschen, viel lachenden, verschmusten und sich normal entwickelnden Sohn. Es gibt die Fotos alle noch: Bilder, auf denen er strahlt. Bilder, die beweisen, dass er mal mit anderen Kindern spielte. Bilder aus einer Zeit, die so was von vorbei ist. Ich habe sie später mitgeschleppt von einem Arzt zum nächsten, wie einen Talisman, als könnte ich damit irgendetwas abwehren. Niemand wollte sie sich ansehen; es zählte nicht, was einmal gewesen war. Nur noch die blanken Fakten, der Ist-Zustand. Das Kind lachte nicht. Es spielte nicht. Es nahm keinen Blickkontakt auf. Es sprach keines der Wörter mehr, die ich auf einer Liste als Simons erste Begriffe notiert hatte.
Ich könnte mit Simons Vorfahren beginnen, der beiderseitigen Ahnenreihe, die wir sorgsam auf verdächtige AuÃenseiter durchforsteten, die an jener Krankheit gelitten haben könnten, die zwar wie ein Blitz in unser Leben einschlug, aber eben doch eine logische Konsequenz unseres Erbgutes sein musste, sozusagen von langer Hand vorbereitet. Richtig fündig wurden wir allerdings nicht, kein schrulliger Junggeselle kam in Sicht, kein komischer Onkel, dessen Existenz alles erklärt hätte. Was vielleicht auch daran gelegen haben mochte, dass solche Störungen früher gar nicht diagnostiziert wurden. Jemand galt vielleicht als Sonderling, als etwas seltsam, und lebte doch sein Leben weitgehend innerhalb der Gesellschaft, die damals noch nicht so rigide sortierte. Auf dem Land fiel so einer oft nicht auf, es gab genug Freilauf und einfach
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