Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
strukturierte Arbeiten, mit denen er sein Leben halbwegs integriert hinbringen konnte.
Das, was wir fanden, gab lediglich Raum für Verdacht und bewies am Ende gar nichts. Mein Exmann hatte eine neurotische Mutter mit Angststörungen aufzuweisen, die sie ihm zweifellos weitergegeben hat. Es geht wohl kaum spurlos an einem dreijährigen Jungen vorüber, wenn die eigene Mutter durchs Haus tobt und ruft, sie sterbe, während das hilflose Kind sich im Schrank versteckt. Im Kindergarten hat er dann ein halbes Jahr nicht gesprochen. Angst? Trotz? Mutismus? Mein Exmann hat anfangs einmal sehr bitter zu mir gesagt, Simons Krankheit, das sei sein Autismus. Wahrscheinlich fiel es ihm deshalb auch so schwer, diese Behinderung anzunehmen, weil er an ihr so viele der Züge übernormal ausgeprägt fand, die er an sich selbst kannte und nicht mochte.
Aber ist so etwas pathologisch?
Auf meiner Seite gibt es einen Haufen Depressionen anzubieten, plus Paniksyndrom. Als mein Vater mit 67 deshalb zusammenbrach, war ich heilfroh, endlich gestehen zu können, dass mein Leben schon lange zwischen wenigen guten und vielen grauen Tagen pendelte. Dass diese Anfälle von »ich kann nichts, ich bin nichts« regelmäÃig kamen. Und dass Urlaubsreisen, Flugzeuge, Schiffe, Autos und überhaupt das Verlassen meines Alltagslebens mir zunehmend Angst bereiteten.
Was gab es noch bei mir zu finden? Den Hang, die Welt manchmal nicht sehen zu wollen; dieses Gefühl, unter den Blicken der anderen zusammenzubrechen; diese plötzliche Introvertiertheit nach muntereren Phasen und das Genughaben von einem vertrauten Gegenüber; das Unbehagen in Gruppen, die mich erst aufdrehen und dann ganz schnell auslaugen; und die Unlust an manchen Tagen, auch nur den Telefonhörer abzunehmen.
Hatte Simon das also von mir?
Hätten wir, Simons Eltern, das alles kommen sehen müssen?
Im Rückblick denke ich, dass wir die Augen verschlossen, alles nur in Zeitlupe wahrgenommen haben, bis der Aufprall kam. Obwohl die beiden Züge doch schon in voller Fahrt aufeinander zurasten.
Vielleicht ist das ja der Beginn unserer Geschichte: der schleichende Verlust der Normalität, wenn plötzlich die Kindergärtnerin kommt und dir erzählt, dein Kind sei anders als alle anderen. Zuerst leugnest du das natürlich: Mein Kind, anders? Pah, klar ist es anders. Es ist was Besonderes! Diese SpieÃer haben doch für nichts Verständnis! Wir sind nie Mainstream gewesen, hatten nie Wert darauf gelegt, vielen Dank. Da ist schlicht Engstirnigkeit am Werk, Inkompetenz, Schubladendenken, ganz klar.
Du suchst die Schuld woanders: Im Kindergarten wird gemobbt. Die Erzieher sind unfähig. Die GroÃeltern haben ihm einen erschreckenden Fernsehfilm gezeigt. Oder hat der Gatte der Tagesmutter ihn etwa missbraucht? (Er möge mir vergeben, ein tadellos anständiger Mann. Es war auch nur ein Sekundenverdacht, geboren aus tiefster Verzweiflung.) Es musste irgendein Trauma gewesen sein, das dieses Kind verändert hat, uns zugemutet von der bösen Welt. Das Schlechte ist dort drauÃen. Aber bei uns zu Hause, in der Seele unserer Kinder, in der Familienatmosphäre, im Kern unseres Lebens, da ist alles heil. Und wenn wir nur genug Liebe um uns herumhäufeln, dann hält der Wall auch und alles wird gut.
Dann wirst du langsam weich und beginnst, voller Scham und schlechtem Gewissen, an deinem Kind zu zweifeln. Anfangs vertraust du ja darauf, es der Normalität erhalten zu können, indem du einfach fest daran glaubst, dass alles normal ist. Erst wenn du damit aufhörst, ins Wanken gerätst, zu fürchten beginnst, dann ergreift das System dein Kind, dreht es durch seine gleichmacherischen Mühlen und macht es zu einem Freak. Self fulfilling prophecy, weil das System nicht aushält, was anders ist, aus der Norm fällt. Du willst und wirst dieser Gesellschaft nicht erlauben, deinem Sohn ein Etikett aufzukleben. Du fühlst dich verachtet in deinem Kind. Du beginnst zu hassen.
Es dauerte Monate, bis wir aufhörten zu verdrängen und jener Augenblick kam, da ich abends in der Küche stand, den Telefonhörer am Ohr, zum ersten Mal weinend, wie ich später noch oft weinen würde, zum ersten Mal mit dem Gefühl, am Ende zu sein, obwohl ich noch so oft an solche Enden kommen würde. Und immer macht man weiter, einfach aus Mangel an Alternativen. Ich weià noch, ich sagte zu meiner Mutter am anderen
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