Im Dutzend phantastischer
Hätte ich doch!
So diskutierte ich still hin und her und wurde erst aus meinem inneren Zwist gerissen, als sich ein weiterer Klassenkamerad zu mir setzte und mich leise ansprach.
»Hi, Trish!«
Eigentlich heiße ich Patrizia, aber ich hasse diesen Namen. Deshalb bekam ich in der Schulzeit eine Menge Kosenamen zugeteilt. Trish hatte mir am besten gefallen, doch ich hatte ihn fast vergessen. Nicht nur den Namen, auch die Person, die ihn ausgesprochen hatte. Damals wie heute.
Und nun, als ich diesem Menschen in die Augen blickte, empfand ich ein zwiespältiges Gefühl. Ich freute mich, ihn zu sehen, aber es war schwierig, den Namen zu finden. Denn früher, als wir enge Freunde gewesen waren, hatte er lange Haare und Brüste gehabt. Er sah meine Verblüfftheit und half mir: »Ich heiße jetzt Stefan. Ist nicht sonderlich einfallsreich, ich weiß. Aber es schien mir für meine Familie am Einfachsten.«
Ich hatte meine Sprache noch nicht wiedergefunden, aber jetzt wusste ich wieder den Namen – den von damals: Stefanie, ja. Mein Gott, was hatten wir alles miteinander erlebt. Wir waren die besten Freundinnen gewesen. Das waren wir wirklich. Wieso nur hatte ich sie vergessen? Jetzt erinnerte ich mich, dass sie sich wie ein Junge gekleidet, kurze Haare getragen und versuchte hatte, kein Mädchen zu sein. Jedes Jahr zu Weihnachten hatte sie sich gewünscht, ein Junge zu werden, sonst nichts. Wir wussten damals nicht, dass so etwas überhaupt möglich war. Als Kind hatte ich dem Ganzen nicht solche Bedeutung beigemessen, vermutlich hätte ich das als Erwachsener auch nicht. Mein Gott, Stefanie war zu Stefan geworden.
Wir umarmten uns. Es war schön, seine alten Freunde wiederzusehen. Diese Unbeschwertheit aus Kindertagen noch einmal zu spüren. Die Last, die heute auf mir lag, für wenige Stunden zur Seite zu schieben und nicht daran zu denken.
»Du hast es wirklich getan?«
»Ja!«, antwortete Stefan mit einer hohen, aber eindeutig männlichen Stimme. »Ich habe nach der Schule zwei Selbstmordversuche hinter mir, weil ich nicht mit diesem, mir zugedachten weiblichen Part klar kam. Das war nicht ich. Irgendwann bin ich dann zu einer Therapie gekommen, und da wurde mir klar, dass meine Hormone, meine Gene mehr Mann als Frau sind. Das ist alles sehr kompliziert zu erklären, und es war auch kein leichter Schritt. Vor allem war es nicht leicht, diese Operationen über mich ergehen zu lassen. Aber jetzt bin ich ich . Jetzt geht's mir gut!«
Ich schüttelte den Kopf. Nicht, weil ich ihm nicht glaubte, nicht, weil ich es abartig und die Vorstellung einer Geschlechtsumwandlung grausam fand, sondern weil ich den Mut bewunderte. Den Mut, sich gegen das einem vom Schicksal zugedachte Leben zu stellen. Ich fühlte mich nicht dazu in der Lage. Ich kämpfte zwar gegen das Schicksal Anderer, fügte mich aber meinem eigenen. Stefan musste sich wohlfühlen in seiner Haut. Eine Geschlechtsumwandlung würde mir aber nicht helfen. Nur mein eigener Tod gäbe mir die Erlösung. Es war meine Aufgabe – eine, die niemandem bewusst war, und das war gut so. Wie glücklich war ich doch, wenn ich die Täter auf einen anderen Weg brachte, wenn ich ihre Verbrechen erzählte, bevor sie geschahen und unschuldige Opfer vor Grausamkeiten bewahrte. Das war meine Bestimmung, aber sie quälte mich, immer dann, wenn ich nicht schnell genug geschrieben hatte, wenn ich die Menschen nicht vor ihrem Schicksal bewahrt hatte. Dann stürzte ich diesen Abhang hinunter, so wie Peters Auto. Aber ich hatte nicht das Glück, daran zu sterben, sondern musste versuchen, wieder hinaufzuklettern, allein. Niemand reichte mir ein Seil oder eine Leiter. Ich hätte die Unterstützung auch abgelehnt. Aber heute saß ich hier, wollte in die Vergangenheit reisen und noch einmal klein und unter ehemals vertrauten Menschen sein, nur darum war ich zu diesem Klassentreffen gegangen.
Stefan und ich setzten uns abseits und unterhielten uns wie zwei Waschweiber über alte Zeiten. Als wir mit der Schulzeit fertig waren, begannen wir mit den Wegen des Einzelnen. Und Stefan hatte auf jeden Fall den größeren Sprung gemacht, vor allem äußerlich. Beruflich arbeitete er als Chirurg im Ausland. Meinen Lebenslauf kannte jeder, zumindest, wer schon einmal ein Buch von mir gelesen hatte. Stefan hatte – und wusste somit, dass ich alleine lebte, dass mein Leben aus Schreiben bestand und ich 15 Bücher und zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht hatte. Allesamt Thriller, manche
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