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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Schenk
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so nahe kommen würde im Leben.
    Nach Hause konnte er nicht in diesem Zustand. Er brauchte einen Kaffee, auch etwas zu essen vielleicht, aber nicht hier am Bahnhof. Die Brötlistube läge am Weg, zur Bäckerei St. Jakob wäre es auch nicht weit. Schwitter kam ins Studieren, der Gedanke an einen Kaffee hatte den Mechanismus in Schwung gebracht, und er wusste, dass er ihn nicht mehr stoppen konnte. Andere setzen sich ins erstbeste Café, auf gut Glück. Er beneidet sie darum, doch er braucht Gewissheit, prinzipiell, auch wenn es Zeit erfordert. Als würde ein einziger unüberlegter Schritt ausreichen, ein ganzes Leben zu verpfuschen. Er strengte sich an, die richtige Entscheidung zu treffen, das richtige Café zu finden, im Kopf schritt er den Weg ab, rief sich Cafés und Restaurants in Erinnerung, die er kannte, machte Abstecher in Seitengassen, vergewisserte sich in Innenhöfen, kam an neun Lokalen vorbei, neun Möglichkeiten, die er sorgfältig prüfen musste, Tageszeit und Wochentag in Betracht ziehend. Er wollte systematisch vorgehen, beim Kaffee beginnen, das war sein ursprünglicher Gedanke, der schmeckt im La Perla am besten, stark und angenehm bitter, dazu noch etwas Süßes, ein Stück Schokoladenkuchen zum Beispiel, doch im La Perla gibts nur Abgepacktes, er wollte aber frische Ware, für selbstgemachten Kuchen vielleicht doch besser zum Sprüngli beim Löwenplatz, aber nicht um drei Uhr, da ist zu viel Lärm, einmal hatte er Zeitung gelesen um diese Zeit, da kamen japanische Touristen herein, setzten sich an seinen Tisch, ausgerechnet in das kleine Café, wo doch in jedem Reiseführer das Sprüngli am Paradeplatz aufgeführt ist, nein, für etwas Ruhe besser ins Avenida hinter dem Stauffacher, aber nicht an einem Samstag, dann ist es dort zu ruhig, ein bisschen Betrieb muss schon sein, sonst fühlt man sich beobachtet, und dann kann sich die Kellnerin noch das Gesicht merken und das nächste Mal ungefragt Kaffee und Wasserglas vor einen hinstellen, keine Stammgastrituale aufkommen lassen, deshalb lieber ins Forum, dort wechselt das Personal häufiger, wären nur nicht diese Sessel, auf denen man weder sitzen noch liegen kann.
    Wie Schwitter in Gedanken durch die Stadt irrte, sah er sich von zwei Bahnpolizisten beobachtet. Wäre er als Aufseher angestellt hier, wäre ihm dieser Mann auch längst aufgefallen. Als die beiden Polizisten auf ihn zukamen, löste er sich von seinem Platz, dann eben doch ins La Perla, dachte er trotzig, eilte durch den Bahnhof, als wollte er die verlorene Zeit aufholen, ging durch die Unterführung, die Treppe wieder hoch. Er musste stehenbleiben, vor Aufregung hatte es ihm den Atem verschlagen, an einer Hauswand suchte er Halt, es atmet ganz ruhig in mir, versuchte er sich einzureden, das Einzige, was ihm vom autogenen Training geblieben war, er stellte sich vor, wie hell schimmernde Sauerstoffbläschen in seinen Arterien zirkulierten, fand allmählich wieder in den Rhythmus, es atmet ganz ruhig in mir, die Brust wölbt und senkt sich, auch der Bauch schwingt mit. Du darfst nichts von deiner Atmung erwarten, hatte ihm der Therapeut geraten, dann wirst du nicht enttäuscht, dann wird dich die Luft wie Äther durchwehen, in sanften rhythmischen Wellen.
    Danach zwang er sich, den Tramschienen folgend, zu kleinen Schritten, Linie drei, so musste er nicht an jeder Kreuzung überlegen, welchen Weg er einschlagen sollte. Der Mensch, hat ihm Schindler damals gesagt, ist ein undankbares Wesen, da würden Knochen, Muskeln und Organe zuverlässig ihren Dienst leisten, ohne dass man es zur Kenntnis nimmt, aber kaum reißt dann einmal etwas oder gerät ein innerer Apparat ins Stocken, realisiert man erst, was alles in einem steckt, zum Beispiel die Lungenflügel, in seinem, Schindlers Fall, krankhaft und unheilbar gebläht. Seither hat Schwitter den Mann vor Augen, wenn ihm die Luft ausgeht. Ist man verantwortlich für sein Aussehen, fragte er sich, wenn er Schindler betrachtete, das eingefallene Gesicht, den auf die Knochen abgemagerten Körper. Von dieser Zerbrechlichkeit hoben sich nur der grotesk vergrößerte Brustkasten ab und die Halsmuskeln, kräftige Stränge, die wie Kletterseile hervortraten. Ist der Mensch verantwortlich dafür, wenn sich das Skelett verformt, wenn die Lippen blau anlaufen, Doppelkinn und Knollennase sich bilden, fleischige Ohrläppchen und buschige Augenbrauen? Liegt es an den Genen oder am Essen, fragte er sich. Oder lassen sich die Menschen zu stark gehen? Ist

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