Im Schneeregen
Eltern halt noch rüstig, bescheidene Summe, Aktienfonds, ganz am Anfang und ohne Glück ein paar Optionen. Am Empfang wird man Imhof mitteilen, Herr Schwitter sei leider erkrankt übers Wochenende, sein Stellvertreter nicht abkömmlich so kurzfristig. Wenn es nach seinem Chef ginge, würde Imhof längst in der Schalterhalle Schlange stehen. Dort gehören die Kleinanleger hin, sagt er immer, lässt sich billiger over the counter abwickeln, und vergiss die Erbschaft, bei der heutigen Lebenserwartung. Für vierzig-, fünfzigtausend Franken braucht es keine teuren Anlagespezialisten, verstehst du, dafür sind unsere Fixkosten zu hoch, da sind wir nicht kompetitiv, Schweizer Blue Chips, Emerging Markets, ist doch alles indexiert, das ideale Schaltergeschäft. Bis jetzt hat ihn sein Chef gewähren lassen, die kleinen Sparer zu Fonds zu überreden. Solange er es schafft, seine Jahresziele zu erreichen, zwei Millionen Franken Fondsabschlüsse, ein paar Hunderttausend Neugelder und so weiter. Nicht, dass er ein besonders guter Verkäufer wäre. Zu überzeugen vermag er nur in einem Punkt, bei der persönlichen Vorsorge, sparen, etwas zurücklegen fürs Alter. Angst vor der Zukunft machen, das kann er, nehmen dir alle ab, sagt sein Chef, da bist du völlig authentisch. Wenn seine Kunden Aktien zeichnen oder neue Fonds, hat Schwitter danach immer das Gefühl, sie hätten es aus Mitleid mit ihm getan.
Er hätte rechtzeitig umkehren können. Noch war kein Regen gefallen, als er den Waldrand erreicht hatte. Vom Klosterplatz aus hatte er einige hundert entschlossene Schritte gemacht, der Weg führte steil in die Höhe, der Verkehrslärm und das Dröhnen der Baumaschinen ließen nach. Vor seinen Augen breitete sich Wiesland aus. Er blieb stehen, um zu verschnaufen. Da fielen ihm die Wolken auf, von Westen schoben sie sich heran, begannen den Himmel abzuschirmen, schneller, als er es erwartet hatte. Nur kurz zögerte er, dachte daran, nach Einsiedeln abzusteigen, bevor der Regen einsetzen würde, vielleicht bald schon Schnee, die Nullgradgrenze, hatte es im Wetterbericht geheißen, am Nachmittag gegen tausend Meter sinkend, ein kleiner Kälterückfall, nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit. Was hätte er im Dorf machen sollen? Ziellos umhermarschieren, sich unter die Klostertouristen mischen, Schaufenster nach Devotionalien absuchen, Kerzen, Kreuze, Rosenkränze, durchs Eisengitter einen Blick auf die Schwarze Madonna werfen, sich von den Wegweisern zum Rundgemälde der Kreuzigung Christi führen lassen, zur größten Krippe der Welt, zum Lebkuchenmuseum, Mineralienmuseum und weiter zur Skisprungschanze, der jüngsten Attraktion, das Betonprofil studieren und aus dem immergrünen Rasen, wo die Athleten landen, ein paar Plastikfasern zupfen als Souvenir? Gleich nach Zürich zurück und sich auf der Zugfahrt den Kopf darüber zerbrechen, wie nun der Rest des Tages zu ordnen sei, kam nicht in Frage, er hatte sich für den Ausflug entschieden, da konnte ihn das Wetter nicht davon abbringen.
Geraten seine Pläne durcheinander, kommt er unter Druck. Rasch wachsen die Erwartungen, groß und bedrohlich wird der Tag. So war es letzte Woche, der Coiffeur sagte ihm kurzfristig ab, Migräneanfall, Schwitter war schon unterwegs, als sein Telefon klingelte. Er hatte sich aufs Haareschneiden gefreut, mit geschlossenen Augen dasitzen, nur Atemgeräusche und das Schnippen der Schere. Beschwingt marschierte er los, sprang die Stufen zum Tram hoch, stieg nach ein paar Stationen wieder aus und ging zu Fuß weiter, denn er war viel zu früh dran. Der Anruf raubte ihm allen Schwung, die Beine wurden schwer, angestrengt zog er sie übers Trottoir, machte große Bogen um Fußgänger, machte sich klein, ließ sich zum Bahnhof treiben, blieb stehen. Dort, in der Halle, wurde er von Reisenden umströmt, ganz nahe kamen sie ihm, er musste sich zwingen, zu verharren. Es gab Fußgänger, die durchquerten die Halle in direkter Linie, entschlossen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wer Regung zeigte, die Pupillen verengte oder gar die Augen abwendete, hatte verloren. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen, Schwitter war sich der Gefahr bewusst, so steif und stur, wie er unter der großen Anzeigetafel stand. Der Zufall führte Menschen auf einen Meter oder weniger an ihn heran, er konnte den Luftzug spüren, Parfum und Rasierwasser riechen, er hätte, um sie zu berühren, nur seinen Arm ausstrecken müssen, dabei dachte er daran, dass er den meisten nie mehr
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