Imperium
der Junge die Worte las oder nur die Bilder betrachtete.
Eines Abends, nachdem Herr Lekski den Laden geschlossen hatte, nahm er den Jungen mit hinter das Geschäft, um ihm sein Auto zu zeigen. Lubji riß die Augen weit auf, als er erfuhr, daß dieses wundersame Ding sich bewegen konnte, ohne von
einem Pferd gezogen zu werden. »Aber es hat doch keine Beine!« rief er ungläubig. Er öffnete die Wagentür und kletterte neben Herrn Lekski ins Innere. Als der alte Mann auf einen Knopf drückte, um den Motor anzulassen, fühlte der Junge sich gleichermaßen übel wie verängstigt. Doch
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wenngleich er kaum über das Armaturenbrett zu blicken vermochte, wollte er schon kurz darauf mit Herrn Lekski den Platz tauschen und sich hinters Lenkrad setzen.
Herr Lekski fuhr Lubji durch die Stadt und setzte ihn vor der heimischen Hütte ab. Der Junge stürmte sofort in die Küche und rief seiner Mutter zu: »Eines Tages hab’ ich auch ein Auto!« Zelta lächelte bei dem Gedanken und verschwieg ihrem Sohn, daß sogar der Rabbi nur ein Fahrrad besaß. Dann fütterte sie ihr jüngstes Kind weiter – und schwor sich wieder einmal, daß es das letzte sein würde. Dieser neuerliche Familienzuwachs hatte zur Folge gehabt, daß der schnell wachsende Lubji sich nicht mehr zu seinen Schwestern und Brüdern auf die Matratze zwängen konnte. Seit einiger Zeit mußte er mit den alten, in der Feuerstelle ausgelegten Zeitungen des Rabbi vorlieb nehmen.
Sobald es dunkel wurde, balgten die Kinder sich um einen Platz auf der Matratze; die Hochs konnten es sich nicht leisten, ihren geringen Vorrat an Kerzen zur Verlängerung des Tages zu vergeuden. Nacht für Nacht lag Lubji in der ausgepolsterten Feuerstelle, dachte an Herrn Lekskis Auto und versuchte eine Möglichkeit zu finden, seiner Mutter zu beweisen, daß sie im Irrtum war. Dann erinnerte er sich an die Brosche, die sie nur zu Rosh Ha Shannah trug. Er zählte die Tage an den Fingern ab und gelangte zu dem Ergebnis, daß er noch sechs Wochen warten mußte, ehe er den Plan, den er sich ausgedacht hatte, in die Tat umsetzen konnte.
Den größten Teil der Nacht vor Rosh Ha Shannah lag Lubji wach. Kaum hatte seine Mutter sich am nächsten Morgen angezogen, folgte Lubjis Blick ihr – oder vielmehr der Brosche, die sie trug.
Nach dem Gottesdienst, als sie die Synagoge verlassen hatten, fragte sich Zelta, weshalb ihr Sohn auf dem gesamten Heimweg ihre Hand nicht losließ. Seit seinem dritten
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Geburtstag hatte er das nicht mehr getan. Sobald sie in ihrer kleinen Hütte waren, setzte Lubji sich mit übereinander geschlagenen Beinen in die Ecke des Zimmers, in der sich die Feuerstelle befand, und beobachtete, wie seine Mutter das winzige Schmuckstück von ihrem Kleid löste. Einen
Augenblick betrachtete Zelta das Erbstück; dann kniete sie nieder, hob die lose Bodendiele neben der Matratze an und legte die Brosche behutsam in die alte Pappschachtel, ehe sie das Bodenbrett zurückschob.
Während Lubji der Mutter zuschaute, verhielt er sich so still, daß Zelta sich Sorgen machte und ihn fragte, ob er sich nicht wohl fühle.
»Mir geht’s gut, Mama«, beruhigte er sie. »Aber heute ist Rosh Ha Shannah, und da hab’ ich darüber nachgedacht, was ich im neuen Jahr tun soll.« Seine Mutter lächelte, denn sie hegte noch immer die Hoffnung, daß sie ein Kind geboren hatte, aus dem vielleicht ein Rabbi wurde. Lubji schwieg, weil er über das Problem mit der Schachtel nachdenken mußte. Er verspürte keinerlei Gewissensbisse, daß er in den Augen seiner Mutter eine Sünde beging, wenn er seinen Plan verwirklichte; schließlich hatte er sich fest vorgenommen, bis zum Ende des Jahres alles an seinen alten Platz zurückgelegt zu haben, so daß niemand je etwas von seiner Tat erfahren würde.
In dieser Nacht, als die anderen Familienmitglieder sich auf die Matratze gelegt hatten, bettete Lubji sich in die Feuerstelle und tat so, als würde er schlummern, bis er sicher war, daß alle anderen in Schlaf gefallen waren. Er wußte, daß für die sechs unruhigen, dicht aneinander gedrängten Leiber – zwei Köpfe oben, zwei unten, und Mutter und Vater an den Enden – der Schlaf ein Luxus war, der selten länger als ein paar Minuten dauerte.
Als Lubji glaubte, daß außer ihm niemand mehr wach war, kroch er vorsichtig an den Wänden des Zimmers entlang, bis er zur gegenüberliegenden Seite der Matratze gelangte. Sein 40
Vater schnarchte dermaßen laut, daß Lubji befürchtete, jeden Moment
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