Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Marie, ändere das mal?
Schwester Magdalena war ohne Aufenthalt fortgefahren in ihren terrassenartigen Ableitungen, mild und unerbittlich. Unter Zwischenfragen litt sie wie unter Wespenstichen, sie war auf Unterbrechungen ihres Vortrags gar nicht eingerichtet, und wenn sie mit ganz sanfter Aufwölbung der Stirnhaut und gezerrten Mundwinkeln darauf hinwies, daß sie Qualen ausgesetzt war, wollte sie tatsächlich tadeln. Diese Miene dehnte sie zu einem schiefen Lächeln, das ihre menschliche Schwäche bejammern sollte und sich nur halbherzig gab wie eine Entschuldigung. So kam sie um Antworten herum. Selbst schien sie Fragen zu stellen, jedoch nicht geradezu. Sie sprach von den Härten und Entbehrungen, unter denen arbeitende Eltern zu leiden haben gerade insofern, indem sie sie an die Kinder weitergeben. Gerade bei einzelnen, getrennt lebenden Eltern könne der Verzicht auf Autorität andere und schlimmere Folgen für die Kinder haben als die erhofften und so weit auch lobenswerten. Es sei nicht das selbe von Familie zu Familie, wenn Kinder ihre Eltern nicht als solche, sondern mit dem Vornamen anredeten. Es gebe eine Vertraulichkeit, eine vorgetäuschte Ebenbürtigkeit, die ein kindliches Gemüt eher verheere als entfalte. Schwester Magdalena wurde kein Mal konkret, noch den Psychiater der Schule erwähnte sie lediglich als einen gemeinsamen Bekannten von allerdings bedeutenden Verdiensten in Beruf und menschlichem Verhalten. Es waren Erkundigungen, aber ihre allgemeine Destillation ließ sachliche Auskünfte nicht zu. Es war, als wolle sie sich mit Eindrücken zufrieden geben. Wir konnten ihr nichts verständlich machen. Es kam darauf an, ihr schlichte Mimik faßlich hinzuhalten: die Angst um Maries Platz an der Schule, den Kummer über Schwester Magdalenas offenbar schlaflose Nächte, den eifrigen Willen zur Besserung; alles in der ungefähren Hoffnung, wenigstens Glauben zu finden. Es war keine offene Lüge. Schwester Magdalena ist die Klassenlehrerin, und nach einer Vorladung zu ihr kommt gleich die zur Leitung der Schule. Das Institut ist überlaufen in allen seinen Jahrgängen, eben wegen des soliden Lehrplans, und es wird uns nichts nützen, daß wir kein Stipendium erbeten haben sondern die vollen Gebühren entrichten, verfügen doch die anderen Bewerber über das Sakrament der Taufe, das Marie nicht vorweisen kann. Die dritte Vorladung ins Direktorat ist so gut wie der Verweis des Kindes von der Schule. Gegen die Erkenntnisse einer Lehrerin, die schon seit elf Jahren immer die fünfte Klasse unterrichtet, gibt es keine Berufung. Das Institut hat neulich ein Kind, dem ein Hüftschaden angeboren ist, aus der Schülerschaft gestrichen, weil es am Ende doch nicht imstande war, sich den Vorstellungen der Erzieherinnen von einem wünschenswerten Kinde zu nähern. Die Lüge saß wo anders: in den auskömmlichen Formen des Gesprächs, in unserem erwarteten und unbezweifelten Respekt vor den psychologischen Befähigungen Schwester Magdalenas, bis zur unerschütterlichen Freundlichkeit des Abschieds vor der Fahrstuhltür, von der Schwester Magdalena nicht weichen wollte, bevor die Kabine angekommen war. Auf der Straße, unter einem weltlichen Hut, wir würden sie nicht erkennen. - Es war so eine Freude, mit Ihnen zu sprechen, Mrs. Cresspahl. - Nein. Es war meine Freude, Schwester Magdalena.
Entschuldige, Jakob.
Na gut, Gesine. Und wofür?
Daß ich gesagt habe »Wir leben nicht getrennt«.
Wie es ist.
Daß ich gesagt habe »Er ist tot«.
Das hilft immer, was, Gesine?
Entschuldige Jakob.
Nimm das Kind da weg, Gesine.
Wohin, Jakob? Auf den Mond?
Dublin, Gesine. London. Kopenhagen.
Sollen wir Marie auffordern: Respektier gefälligst meine Autorität? Sollen wir ihr Angst einjagen mit dem Schwarzen Mann? mit dem Psychiater? mit dem Blauen Brief? Sollen wir verlangen: Erzähl nicht in der Schule, wovon wir zu Hause sprechen?
Das Kind ist so tief im Grübeln, es verzichtet auf den Anblick der Einfahrt ins Fährbecken, obwohl die Drosselung der Maschinen schon lange den Schiffskörper stärker zittern macht und die meisten Fahrgäste in keilförmigen Trauben auf die Türen und Treppen zugestrebt sind. - Ich verstehe das nicht: sagt sie. - Ich war allein in der Klasse, als ich es an die Tafel schrieb, und Schwester Magdalena hat es in der Stunde danach abgewischt ohne zu fragen.
– Was hast du an die Tafel geschrieben?
Das fällt dem Kind schwer. Sie windet sich nicht geradezu, aber sie druckst, sie hält den
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