Jeder stirbt für sich allein
wieder hört er ihre Anklage, er ist jetzt zu einer ganz ungewohnten Stunde unterwegs, diesen Borkhausen an der Seite, heute abend ist die Trudel bei ihnen, es wird Tränen geben, endloses Gerede - und er, Otto Quangel, liebt doch so sehr das Gleichmaß des Lebens, den immer gleichen Arbeitstag, der möglichst gar kein besonderes Ereignis bringt. Schon der Sonntag ist ihm fast eine
Störung. Und nun soll alles eine Weile durcheinandergehen, und wahrscheinlich wird die Anna nie wieder die, die sie einst war.
Er muß sich das alles noch einmal ganz genau überlegen, nur der Borkhausen hindert ihn daran. Jetzt sagt dieser Mann doch: «Sie sollen ja auch einen Feldpostbrief bekommen haben, und er soll nicht von Ihrem Otto geschrieben sein?»
Quangel richtet den Blick seiner scharfen, dunklen Augen auf den andern und murmelt: «Schwätzer!» Weil er aber mit niemandem Streit bekommen will, selbst nicht mit solch einem Garnichts wie dem Rumsteher Borkhausen, setzt er halb widerwillig hinzu: «Die Leute schwatzen alle viel zuviel!»
Der Emil Borkhausen ist nicht beleidigt, den Borkhausen kann man so leicht nicht beleidigen, er stimmt eifrig zu: «Sie sagen's, wie's ist, Quangel! Warum kann die Kluge, die Briefschleiche, nicht das Maulwerk halten?
Aber nein, gleich muß sie allen erzählen: Die Quangels haben einen Brief aus dem Felde mit Schreibmaschinenschrift bekommen!» Er macht eine kleine Pause, und dann fragt er mit einer ganz ungewohnten, halblauten, teil-nehmenden Stimme: «Verwundet oder vermißt oder ...?»
Er schweigt. Quangel aber - nach einer längeren Pause -
antwortet nur indirekt: «Also Frankreich hat kapituliert?
Na, das hätten die gut auch einen Tag früher machen können, dann lebte mein Otto noch ...»
Borkhausen erwidert auffallend lebhaft: «Aber weil soundsoviel Tausende den Heldentod gestorben sind, darum hat Frankreich sich doch so rasch ergeben. Darum bleiben so viele Millionen nun am Leben. Auf so 'n Opfer muß man stolz sein als Vater!»
Quangel fragt: «Ihre sind alle noch zu klein, um ins Feld zu gehen, Nachbar?»
Fast gekränkt meint Borkhausen: «Das wissen Sie doch, Quangel! Aber wenn sie alle auf einmal stürben, durch
'ne Bombe oder so was, da wäre ich nur stolz drauf. Glauben Sie mir das nicht, Quangel?»
Aber der Werkmeister beantwortet diese Frage nicht, sondern denkt: Wenn ich schon kein rechter Vater bin und den Otto nicht so liebgehabt habe, wie ich mußte -
dir sind deine Gören einfach eine Last. Das glaube ich, daß du froh wärst, die durch eine Bombe alle auf einmal loszuwerden, unbesehen glaube ich dir das!
Aber er spricht nichts derart, und der Borkhausen, der schon des Wartens auf eine Antwort überdrüssig geworden ist, sagt: «Denken Sie doch mal nach. Quangel, erst das Sudetenland und die Tschechoslowakei und Österreich und nu Polen und Frankreich - wir werden doch das reichste Volk von der Welt! Was zählen da ein paar hundert-tausend Tote? Reich werden wir alle!»
Ungewohnt rasch entgegnet Quangel: «Und was werden wir mit dem Reichtum anfangen? Kann ich ihn essen?
Schlaf ich besser, wenn ich reich bin? Werd ich als reicher Mann nicht mehr in die Fabrik gehen, und was tu ich dann den ganzen Tag? Nee, Borkhausen, ich will nie reich werden und so schon bestimmt nicht. So ein Reichtum ist nicht einen Toten wert!»
Da packt ihn Borkhausen am Arm, seine Augen flak-kern, er schüttelt den Quangel, während er eilig flüstert:
«Wie kannst du so reden, Quangel? Du weißt doch, daß ich dich für so 'ne Meckerei ins KZ bringen kann? Du hast ja unserm Führer direkt gegen's Gesicht gesprochen!
Wenn ich nun so einer wäre und meldete das ...?»
Quangel ist erschrocken über seine eigenen Worte. Diese Sache mit Otto und Anna muß ihn viel mehr aus dem Gleis
geworfen haben, als er bisher gedacht hat, sonst hät-te ihn seine angeborene, stets wachsame Vorsicht nicht so verlassen. Aber der andere bekommt von seinem Erschrecken nichts zu merken. Quangel befreit seinen Arm mit den starken Arbeitshänden von dem laschen Griff des andern und sagt dabei langsam und gleichgültig: «Was regen Sie sich denn so auf, Borkhausen? Was habe ich denn gesagt, das Sie melden können? Ich bin traurig, weil mein Sohn Otto gefallen ist und weil meine Frau nun vielen Kummer hat. Das können Sie melden, wenn Sie wollen, und wenn Sie wollen, dann tun Sie's! Ich geh gleich mit und unterschreibe, daß ich das gesagt hab!»
Während Quangel aber so ungewohnt wortreich daherredet,
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