Jenseits des Mondes
wir eng umschlungen beieinandergelegen hatten, immer im Gefühl, unsere Zeit wäre viel zu kurz. Und die Momente, in denen wir in unseren Küssen das Blut des anderen gekostet hatten.
Ich wollte mehr. Mehr von Michael. Sein Blut.
Zu Beginn unserer Beziehung, als er mir von der Macht des Blutes erzählt hatte, war es mir bei dem bloßen Gedanken daran, jemandes Blut zu trinken, kalt den Rücken heruntergelaufen. Bis ich erfuhr, dass schon ein einziger Tropfen uns den Blick in die Gedanken und die Seele des anderen eröffnete. Wenn wir unser Blut miteinander teilten, war das ein unbeschreibliches Gefühl von Glück und Nähe.
Michael spürte mein Verlangen. Wahrscheinlich ging es ihm wie mir, und ihm muss klar gewesen sein, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis wir der Versuchung nachgeben würden. Er muss gewusst haben, dass wir ihr nicht nachgeben durften, weil wir sonst alles aufs Spiel gesetzt hätten.
»Ellie, das geht nicht«, murmelte er und schob mich sanft von sich weg.
»Warum nicht?« Meine Sehnsucht nach ihm war so groß, dass es mir völlig egal war, wie verzweifelt ich klang.
»Ich will es ja auch, aber –«
»Aber, was?«
Er antwortete nicht. Stattdessen wartete er, bis sich mein Atem wieder etwas beruhigt hatte, dann gab er mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
Ich faltete es auseinander und erkannte Michaels krakelige Schrift. Warum hatte er mir einen Brief geschrieben? Wieso konnte er mir das, was er zu sagen hatte, nicht einfach sagen? Ich wollte mit ihm reden, nicht irgendwelche Zettelchen lesen.
Meine Ellie –
Michael wusste, wie sehr ich es mochte, wenn er mich so nannte. Die Anrede stimmte mich milde genug, um das, was er mir geschrieben hatte – was auch immer es sein mochte –, zu lesen. Zweifellos hatte er genau das beabsichtigt.
Wir wissen also jetzt, was wir sind: Nephilim. Halb Mensch, halb Engel und dazu bestimmt, am Ende der Zeit eine wichtige Rolle zu spielen. Wie auch immer die genau aussehen wird.
Weißt Du noch, was unsere Eltern gesagt haben, als ich sie belauscht habe? Unwissenheit ist das Einzige, was uns – und damit die gesamte Menschheit – bis jetzt vor dem Beginn der Endzeit bewahrt hat. Und gesetzt den Fall, Ezekiel hat uns die Wahrheit gesagt, dann ist sie auch das Einzige, was unsere Eltern vor der tödlichen Gefahr beschützt hat, von anderen Engeln als Druckmittel in ihrem Machtkampf missbraucht zu werden. Unsere Eltern haben versucht, uns in einen Zustand der Unwissenheit zurückzuversetzen, indem ihre Freunde mit Hilfe ihrer speziellen Fähigkeiten unsere Erinnerung gelöscht haben.
Deswegen müssen wir ab jetzt so tun, als hätten wir tatsächlich alles vergessen. Wir müssen so tun, als wären wir Ellspeth Faneuil und Michael Chase, zwei ganz normale Schüler an der Tillinghast High. Diese Fassade müssen wir vor unseren Mitschülern, unseren Freunden, unseren Lehrern und vor allem vor unseren Eltern unbedingt aufrechterhalten. Und da wir nicht mit Sicherheit wissen, ob die gefallenen Engel nicht vielleicht mitbekommen, dass wir Bescheid wissen, wenn wir unsere Kräfte einsetzen, sollten wir vorerst auch nicht fliegen oder Gedanken lesen oder unser Blut kosten. Auf keinen Fall dürfen wir das Risiko eingehen, dass der Endzeit-Countdown ausgelöst wird oder die anderen Gefallenen uns orten. Deswegen sollten wir, selbst wenn wir unter uns sind, die Wahrheit nicht einmal laut aussprechen. Denn falls uns irgendjemand beobachtet oder belauscht oder mit irgendwelchen übernatürlichen Methoden hinterherspioniert, wird er sofort merken, was Sache ist.
Das heißt: Bis wir herausgefunden haben, worin genau unsere Aufgabe besteht und wie wir sie bewältigen können, müssen wir so tun, als wüssten wir von nichts. So lange dürfen wir nur auf dem Papier fliegen, unser Blut miteinander teilen und von ganzem Herzen lieben. Und ich liebe Dich von ganzem Herzen.
Michael
Vier
D urch die Flure der Tillinghast High zu laufen war noch viel seltsamer, als zu wissen, dass ich ein übernatürliches Wesen war.
Irgendwelche Mädchen unterhielten sich über Lipgloss, und Jungs verglichen die Apps auf ihren iPhones. Freundinnen kicherten hinter vorgehaltener Hand über die Outfits ihrer Mitschülerinnen, und Mitglieder der Schulsportmannschaften klopften ihren Teamkollegen als Lob für ein gutes Spiel auf die Schulter. Ich lief an Schülern vorbei, die in letzter Minute noch die Hausaufgaben abschrieben, und an anderen, die mit den Büchern in ihren
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