Julia Extra Band 357
abfällig. „Wann begreifst du endlich, dass ich nicht so schlau bin wie du, Schwesterchen?“
Ross war mindestens so intelligent wie sie. Dass er nicht vernünftig lesen und schreiben konnte, hatte nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun. Doch Elizabeth hatte seinen Stolz verletzt und ihren Bruder in die Defensive gedrängt. Dieser Fehler tat ihr noch heute leid. Immerhin hatte sie daraus gelernt und ihn nie wieder gemacht.
Wäre sie damals nicht so kritisch, rechthaberisch und ungeduldig gewesen, hätte er ihr wohl anvertraut, was ihre Eltern schon lange gewusst hatten: Ross war praktisch Analphabet. Deshalb hatte er die Schule abgebrochen und war verschwunden, ohne je wieder ein weiteres Wort mit seiner Schwester zu wechseln.
Thomas hielt sie für selbstlos, weil sie sich so für ihren gemeinnützigen Verein einsetzte. Gestern Abend hatte er sogar behauptet, sie wäre perfekt. Leider wusste Elizabeth es besser. Sie war alles andere als perfekt.
Nach der heißen Szene in Elizabeths Wohnzimmer befürchtete Thomas, er könnte auch beim nächsten Wiedersehen nicht die Finger von ihr lassen. Er wollte einfach nur seine Neugierde stillen. Mehr war da nicht. Oder doch?
Natürlich mochte er sie. Es war unmöglich, Elizabeth nicht zu mögen. Sie war klug, ehrgeizig, interessant und … zierlich und niedlich. Damit entsprach sie eigentlich überhaupt nicht seinem Beuteschema. Doch seit er gestern Abend einen Blick auf verführerische rosa Spitze unter der Bluse erhascht hatte, war es um ihn geschehen. Immer wieder malte er sich aus, wie er mit ihr auf erotische Entdeckungsreise ging.
Dabei wollte er sich doch eigentlich zusammenreißen und die Beziehung zu Elizabeth geschäftsmäßig gestalten, wie es ursprünglich geplant gewesen war. Die Rolle des verliebten Pärchens mussten sie schließlich nur Nana Jo vorspielen.
Das ließ sich auch ganz gut an, denn als er sie zum Abendessen abholte, händigte sie ihm eine Mappe aus, sowie sie an einer roten Ampel anhalten mussten. Bei einem kurzen Blick stellte er fest, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, ihr Leben, Vorlieben und Abneigungen in übersichtlichen Tabellen darzustellen.
„Danke, das ist sehr hilfreich“, sagte er und gab ihr die Mappe zurück, weil er weiterfahren musste.
„Ich habe auch einen Fragebogen für dich beigelegt, um Zeit zu sparen. Es reicht aber völlig, wenn ich ihn bis morgen Nachmittag ausgefüllt zurückbekomme. Du kannst ihn faxen. Meine Faxnummer steht drauf. Oder du schickst ihn mir per E-Mail. Die Adresse hast du ja.“
Ihre sachliche Vorgehensweise passte genau in sein Konzept. Doch plötzlich gefiel ihm das nicht mehr. Es hatte ihm viel mehr Spaß gemacht, Elizabeth beim persönlichen Frage-und-AntwortSpiel besser kennenzulernen.
Sie fuhren vorm Restaurant vor. Thomas reichte dem Parkwächter den Wagenschlüssel und folgte Elizabeth, die schon fast den Eingang erreicht hatte. Für so eine kleine Frau legte sie ein beachtliches Tempo vor. Und der Hüftschwung war auch nicht ohne. Wenigstens den konnte das gouvernantenhafte Kostüm nicht verbergen.
Ob sie darunter wieder rosa Spitze trug? Diese Frage beschäftigte ihn bis nach der Vorspeise. Es juckte ihn in den Fingern, den obersten Knopf des strengen Outfits zu öffnen und sich immer weiter nach unten vorzuarbeiten.
Ihm wurde heiß. Schnell griff er nach dem mit Eiswasser gefüllten Glas und leerte es in einem Zug, um das Feuer zu löschen, das in ihm brannte.
„Wie war dein Tag?“ Thomas rang sich ein Lächeln ab. „Gibt es neue Erfolgsstorys zu vermelden?“, erkundigte er sich, um sich abzulenken.
Elizabeth belohnte ihn mit einem fröhlichen Lächeln. „Allerdings. Stell dir vor, einer unserer Schüler hat heute ‚Mr Brown Can Moo! Can You?‘ von Anfang bis Ende gelesen. Das ist ein Kinderbuch von Dr. Seuss. Vielleicht kennst du es.“
„Natürlich! Meine Mutter hat es mir oft vorgelesen. Es war eins meiner Lieblingsbücher.“ Thomas strahlte. Wie schön, sich an diese Glücksmomente zu erinnern. Nach dem Unfall hatte er so gut wie alle Erinnerungen an seine Mutter verdrängt, weil sie so wehtaten. Dabei hatte er auch die glücklichen Momente aus seinem Gedächtnis verbannt.
„Ich habe es auch geliebt“, gestand Elizabeth. „Also, unser Schüler hat die ganze Geschichte fehlerfrei vorgelesen. Du kannst dir vorstellen, dass hinterher kein Auge trocken geblieben ist. Der Mann ist vierunddreißig und Vater von Zwillingsmädchen im Kleinkindalter. Er ist vor
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