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Kein König von Geburt

Kein König von Geburt

Titel: Kein König von Geburt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian May
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frühere Tanu-Hauptstadt des Vielfarbenen Landes der wuchernden Pliozän-Vegetation ergeben. Ranken und Ausläufer und Schößlinge der Zierbüsche - nie mehr beschnitten, nachdem die meisten der kleinen Rama-Gärtner umgekommen waren - erstickten die Höfe, die großartigen Treppen und die Filigranmauern aus weißem Marmor. Frische Triebe stießen sogar Türen und Fenster auf, kletterten auf die Dächer und lockerten die roten und blauen Ziegel. Aus gesplitterten Baumstämmen schossen regellos Ruten. Sporen und Samen, in die Ritzen des Pflasters und des Mauerwerks hineingespült oder -geblasen, sprossen in ghoulischem Überfluß.
    Die weiten Esplanaden, die Sport-Arena, der Platz des Handels, die Herrenhäuser und all die stolzen Bauwerke, von den Tanu und ihren klugen menschlichen Sklaven errichtet, wurden gnadenlos umgeworfen und auseinandergedrängt. Schwämme, Moose und blühendes Unkraut lockerten die einstmals schimmernden Alabaster-Böden und die trüb gewordenen Mosaiken.
    In den Säulengängen von König Thagdals Palast waren die schweren Pfeiler durch das unaufhaltsame Wachstum kleiner brauner Pilze aus den Fundamenten gerissen worden. Entlang den verlassenen Boulevards malte der Seenebel die leeren silbernen Fackelhalter schwarz. Die heraldischen Farben auf den Fassaden der fünf metapsychischen Gildenhallen waren von dunklen Stockflecken entstellt. Sogar die hochaufragenden Glastürmchen, deren Feenlicht für immer erloschen war, überzog eine Kruste aus getrocknetem Salz und räudigen Flechten.
    Kreisend konzentrierte der Rabe seine Suche auf den Nordrand der verwüsteten Stadt. Die Hafenanlagen standen völlig unter Wasser. Träge Wellen schwappten halbwegs bis zu der Böschung unterhalb dem Hauptquartier der Koerzierer-Gilde hinauf. Die Oberlichter in dem einen Abschnitt des gewaltigen Bauwerks waren zerschmettert, und die unter ihnen liegende Ringefabrik enthielt keinen Schatz mehr. Dafür hatte das Rabenmädchen gesorgt.
    Mit ihrer Fernwahrnehmung sah sie tief, durch Wasser und Fels bis in die vollgelaufenen Höhlen. Einst hatten sie hoch und trocken über den Salzebenen gelegen, die den Katalonischen Golf säumten. Vor Monaten, als Muriah noch lebte, hatte sie sich mit ihren zum Untergang verurteilten Freunden in einer dieser Höhlen versteckt. Dorthin war Aiken, der Betrüger, gekommen und hatte sie beraubt. (Aber auch dafür hatte sie bereits Vergeltung geübt.)
    Und früher oder später würde sie sich ebenso um alle anderen unerledigten Dinge kümmern, denn in ihrem Wahnsinn war sie methodisch, dies Vogelmädchen, das in endloser Suche unter einem grauen Märzhimmel über einem grauen neuen Meer dahinglitt.
    Sie sah sich Höhle nach Höhle an, wo Treibgut aufgehäuft lag, angespült von der ersten katastrophalen Flutwelle und später eingeschlossen, als das Wasser stieg. In den oberen Kammern einiger dieser Höhlen befand sich sogar noch Luft. Dort nahm sie endlich die kennzeichnende Dichte des sehr kostbaren Metalls wahr.
    Gold.
    Ihr harter Freudenschrei hallte von den Aven-Klippen wider. Sie stürzte hinunter, bremste dicht über dem bleiernen Wasser ab und verharrte bewegungslos, die ebenholzschwarzen Schwingen ausgebreitet. Dann erschien anstelle des Raben eine kleine Frau mit einer Wolke hellen Haars, gekleidet in einen Harnisch, Beinschienen und Handschuhe in schimmerndem Schwarz. Felice lachte laut heraus und war plötzlich nackt, blaß wie Salzschaum bis auf die großen dunklen Augen.
    Sie durchschoß das Wasser wie ein Pfeil aus Fleisch. Eine einzige torpedoartige Bewegung trug sie durch den Meerestunnel und in die Höhle. Bläulich flackernd wie Elmsfeuer schritt sie über das Wasser zu einem schmalen Sims, wo die Leiche lag. Wieder lachte sie beim Anblick des toten Feindes - bis ihr bewußt wurde, daß die schmutzige Glasrüstung nicht amethystfarben war, wie ihr trügerisches blaues Licht sie hatte erscheinen lassen, sondern rubinenrot. Das Rot der Redakteur-Gilde.
    »Nein!« kreischte sie und fiel neben dem Leichnam des Tanu-Ritters auf die Knie. Sein Unterkiefer hing herunter, und seine verrunzelten Augenlider waren geschlossen. Er trug keinen Helm. Glattes helles Haar klebte noch an den halb bloßgelegten Schädelknochen. Sein goldener Reif war von aufgelöstem Gewebe beschmutzt von dem verwesenden Kopf und Hals.
    »O nein«, weinte sie. »Nicht jetzt schon!«
    Sie kratzte den Schlamm weg, der das heraldische Motiv der Brustplatte verbarg, und sie keuchte und wimmerte, bis es

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