Kielwasser
und Kranz nur albern findet. Du unterscheidest messerscharf zwischen Wirklichkeit und Illusion und du wirst dich immer für die Wirklichkeit entscheiden.«
»Und du? Wofür entscheidest du dich?«
»Fürs Leben.«
»Und was ist das, das Leben?«, fragte er ungewollt scharf.
Schumann wandte sich ab. Er hob kurz zum Sprechen an, brach den Versuch aber wieder ab. Dann stand er abrupt auf, ging einmal um seinen Stuhl und setzte sich wieder. Jung starrte ihn dabei unablässig an. Er sprach kein Wort und bewegte sich keinen Zentimeter. Seine Gesichtszüge schienen eingefroren zu sein. Nur seine Augen bewegten sich und folgten dem Gesprächspartner hartnäckig.
Schließlich presste Schumann heraus: »Das ist die Fähigkeit, nicht alles so ernst zu nehmen, verstehst du?«, rief er fast flehentlich. »Dem Alltag einen Hauch von Glanz zu verleihen, das ist es. Wenn mir das gelingt, tut es mir und meiner Umgebung gut. Verstehst du, was ich meine?« Schumann klang, als appelliere er an Jungs verlorene, bessere Hälfte in dem sicheren Wissen, dass sein Appell vergeblich bleiben würde.
Jung senkte seinen Blick. Er sah aus, als hätte er einen heftigen Schlag bekommen. Nachdem er tief Luft geholt hatte, erwiderte er ruhig: »So etwas hat mir kürzlich schon jemand gesagt.«
»Lass mich raten. Es war eine Frau, stimmt’s?«
»Sag mal, was bist du eigentlich für ’n Typ? Hast du heimlich studiert? Irgendetwas Psychomäßiges?« Jung hatte Mühe, seine Aggressivität unter Kontrolle zu halten.
»Siehst du, so bist du. Wenn jemand etwas weiß, muss er gleich studiert haben. Nein, ich habe nicht studiert. Aber vor 20 Jahren ging es mir fast so wie dir jetzt.«
»Und was dann?«
»Sagte ich ja schon. Ich habe gelernt zu leben.« Schumann hörte sich verzweifelt an.
»Das könnte ich ja auch, wenn es stimmte, was du sagst.« Jung bemühte sich vergeblich um Gelassenheit.
»Das glaube ich nicht. Dafür bist du nicht gebaut. Dein Kopf ist zu schwer und dein Gewissen zu groß. Damit wird man vielleicht ein guter Polizist, aber kein guter Liebhaber. Und das ist es doch, was wir vor allem wollen, oder?« Schumanns Stimme hatte sich noch einmal erhoben und war am Schluss fast zu ihrem Alltagsklang zurückgekehrt. Ein verdrießlicher Unterton hatte sich darunter gemischt.
Jung schwieg betreten. Schumann machte Anstalten sich zu erheben und sagte nüchtern: »Du wolltest, dass ich ehrlich bin. Nun hab dich nicht so. Du hast genug, womit du dich trösten kannst.«
»Und das wäre, Herr Doktor?« Ein kindischer Trotz sprach aus Jung.
»Du bist unabhängig, soweit ein Mensch das überhaupt nur sein kann. Du musst niemandem hinterherlaufen, um gut leben zu können. Und du machst deine Arbeit gut. Das reicht doch, oder?«
»Wenn du es sagst. Du bist ja der Experte.«
»Tomi, nun sei nicht beleidigt.« Schumann wirkte resigniert. »Wir fliegen mit der nächsten Maschine zurück nach Deutschland. Danach bist du mich los. Schluss mit dem Doktor, der dich madig macht, okay? Nochmals vielen Dank, dass du mich gerufen hast, und für den Bericht.«
Die Stimmung war im Eimer. Sie waren sich ohne Worte einig, dass sie ihre Unterhaltung nicht länger ausdehnen wollten. Jung reichte dem Partner die ausgedruckten Seiten. Schumann nahm sie, und sie wünschten sich eine Gute Nacht. Er öffnete die Kammertür und meldete sich ab: »Aus der Kammer.«
Jung blieb nachdenklich zurück. Die Braut in ihrem albernen Hochzeitskleid, das hatte gesessen. Er fühlte sich ertappt. Für ihn war Hochzeit in Weiß – besonders im Wiederholungsfall – schlechter Zirkus, Schmierentheater. Die Frauen vergossen literweise Tränen. Die Männer verschuldeten und betranken sich sinnlos. Als Krönung vögelte der berauschte Bräutigam auf der Damentoilette noch schnell die bildhübsche Schwägerin, damit seine laute Brunft nicht die Romantik der Brautnacht ruinierte. Danach versank er im Eheleben. Schluss, aus und vorbei. Vergiss es, ermahnte sich Jung. Er sammelte seine Gedanken und Gefühle ein und schmiss sie mit einer heroischen Geste über Bord.
*
Er zog sich um, putzte die Zähne und verschwand hinter den Vorhängen seiner Koje. Er nahm sein Buch zur Hand und las: ›Wenn wir verliebt sind, enthält diese Liebe fast immer ein Element des Brauchens, den Gedanken, dass wir etwas davon haben könnten: Es ist so aufregend, mit dir zusammen zu sein. Ich fühle mich so gut, wenn du bei mir bist. Du machst mich so glücklich. Ich fühle mich ganz, wenn
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