Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
wieder im Geschäft.
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Bis zum Start der Mexicana-Maschine nach Cabo San Lucas hatte ich drei Stunden Aufenthalt in Los Angeles. Mac hatte mir eine Mappe mit Zeitungsartikeln über Jaffes Verschwinden und seine Nachwehen mitgegeben. Ich machte es mir in einer der Flughafenbars bequem und sah die Ausschnitte durch. Dazu schlürfte ich eine Margarita. Zum Einstimmen. Zu meinen Füßen stand die in aller Eile gepackte Reisetasche, in der neben anderen Dingen meine 35-Millimeter-Kamera, mein Feldstecher und der Videorecorder, den ich mir selbst zum vierunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, verstaut waren. Mir gefiel das Spontane dieser Reise, und ich verspürte schon jetzt dieses Gefühl geschärfter Selbstwahrnehmung, das mit dem Reisen kommt. Meine Freundin Vera und ich besuchten zur Zeit einen Spanischkurs für Anfänger bei der Volkshochschule in Santa Teresa. Allerdings waren wir in unserem sprachlichen Ausdruck fürs erste noch auf das Präsens und kurze Aussagen von zweifelhaftem Nutzen beschränkt — es sei denn, da hockten irgendwo ein paar schwarze Katzen in den Bäumen; dann konnten Vera und ich mit dem Finger auf sie zeigen und sagen: Muchos gatos negros están en los árboles, sí? Sí, muchos gatos. Mindestens bot mir diese Reise Gelegenheit, meine Sprachkenntnisse zu erproben und zu vertiefen.
Zu den Zeitungsausschnitten hatte Mac mehrere Schwarzweißfotos gelegt, die Jaffe bei verschiedenen öffentlichen Anlässen zeigten — Ausstellungseröffnungen, politischen Veranstaltungen, Wohltätigkeitsfesten. Er hatte offensichtlich zur Elite gehört: gutaussehend, elegant gekleidet, stets im Mittelpunkt. Häufig jedoch war sein Gesicht das eine, das unscharf war, so als wäre er genau in dem Moment, als der Fotograf auf den Auslöser drückte, einen Schritt zurückgewichen oder hätte sich abgewandt. Ich überlegte, ob er vielleicht damals schon ganz bewußt vermieden hatte, fotografiert zu werden. Er war Mitte Fünfzig, ein kräftiger Mann mit grauem Haar über einem Gesicht mit hohen Wangenknochen, vorspringendem Kinn und großer Nase. Er wirkte ruhig und selbstbewußt, ein Mann, dem es ziemlich gleichgültig war, was andere von ihm dachten.
Einen Moment lang fühlte ich mich ihm irgendwie verbunden, als ich mir vorstellte, wie es wäre, einfach die Identität zu wechseln. Für mich, die geborene Lügnerin, hatte die Vorstellung immer schon etwas Verlockendes gehabt. Der Gedanke, einfach aus dem eigenen Leben auszusteigen und sich in ein neues, ganz anderes hineinzubegeben wie ein Schauspieler, der die Rolle wechselt, entbehrte nicht einer gewissen Romantik. Vor nicht allzulanger Zeit hatte ich mit einem entsprechenden Fall zu tun gehabt: Ein Mann, der wegen Mordes verurteilt war, war bei einem Arbeitseinsatz geflohen und hatte es geschafft, sich eine ganz neue Persönlichkeit zu kreieren. Er hatte nicht nur seine ganze Vergangenheit abgelegt, sondern sich auch des Makels seiner Verurteilung wegen Mordes entledigt. Er hatte sich eine neue Familie und eine gute Stellung zugelegt und war in seiner neuen Gemeinde ein geachteter Mann. Es wäre ihm vielleicht gelungen, die Täuschung bis ans Ende seines Lebens aufrechtzuerhalten, hätte sich nicht siebzehn Jahre später bei der Ausstellung eines richterlichen Haftbefehls ein Irrtum eingeschlichen, der, Laune des Schicksals, zu seiner Verhaftung führte. Wir können eben unserer Vergangenheit nicht entkommen.
Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, daß es Zeit war zu gehen. Ich packte die Zeitungsausschnitte wieder ein und nahm meine Reisetasche. Ich ging durch die Halle, passierte die Sicherheitskontrolle und trat den langen Marsch zu meinem Flugsteig an. Es gehört zu den unabänderlichen Gesetzen des Reisens mit dem Flugzeug, daß sich der Flugsteig, an dem man ankommt oder abfliegt, stets am äußersten Ende des Terminals befindet, besonders wenn man schweres Gepäck schleppen muß oder zu enge Schuhe anhat. Ich setzte mich in den Warteraum und rieb meinen schmerzenden Fuß, während langsam meine Mitreisenden eintrudelten.
Sobald ich in der Maschine auf meinem Platz saß, nahm ich den Hochglanzprospekt des Hotels zur Hand, den Mac zu den Tickets gelegt hatte. Er hatte mir nicht nur den Flug gebucht, sondern auch gleich in dem Ferienhotel, in dem Wendell Jaffe gesichtet worden war, ein Zimmer bestellt. Ich war zwar nicht überzeugt davon, daß der Mann dort noch anzutreffen sein würde, aber weshalb hätte ich einen kostenlosen Urlaub
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