Kopernikus 4
gerichtet. Dem Bild ist wenig zu entnehmen: Er wirkt weder rätselhaft noch besonders eifrig, noch gleichgültig. Es ist nichts weiter als der Kopf eines Jungen in den Akten. Ich kann sehen, daß es sich um William Coombes handeln könnte, obwohl das eigentlich Charakteristische daran der Eindruck von Anonymität ist, den es hinterläßt; beliebig viele Männer mögen als Jungen so ausgesehen haben. Nur wenn man seine Augen betrachtet, sieht man, daß sie blaß und farblos sind – nicht blau, sondern von einem verwaschenen Gelbbraun, im Augenblick auf nichts gerichtet und anscheinend ohne Oberfläche oder Tiefe. Sie geben dem Gesicht des Jungen eine Besonderheit, die mir an Mr. Coombes nie aufgefallen ist, weil man einem lebendigen Menschen möglichst nicht in die Augen sieht. Wenn man nicht gewußt hätte, daß er ein verrückter Werksleiter war, hätte man Mr. Coombes wohl kaum bemerkt.
Ich traf ihn zum ersten Mal, als er anfing, vom Werk aus zu Fuß nach Hause zu gehen. Er mußte sich im Blockbüro melden, wenn er hereinkam, und weil er meist gegen zwanzig Uhr kam und ich die Abendschicht hatte, meldete er sich gewöhnlich bei mir. Anfangs war mir bei ihm nicht ganz wohl. Diese Gegend ist im Atlantischen Krieg schwer getroffen worden – von hier bis zum Krater sind es nur fünfzig Kilometer –, und wegen der Strahlung ist sogar jetzt noch eine allgemeine Schutzraumverordnung in Kraft. Vor achtzehn Jahren war die Strahlung noch höher. Die verseuchten Gebiete waren gerade erst gesperrt worden, ‚saubere’ Luft war sogar noch schmutziger als heute, und nur sehr wenige Leute betraten die Dächer, nicht zu reden von den Straßen. Mr. Coombes hatte die Erlaubnis beantragt, regelmäßig vom Werk aus zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen. Dazu mußte er zunächst am Highway entlang klettern, was an sich schon gefährlich war. Danach kam ein langer Umweg um Bryant, das abgesperrt ist. Der Weg war kaum in weniger als drei Stunden zu schaffen, das meiste davon unterhalb der Dachhöhe.
Heute kann man leicht sagen, daß er im letzten Jahr vierundsechzig geworden ist und dabei immer noch arbeitet, während die meisten seiner Altersgenossen und sicherlich die meisten Veteranen schon gestorben waren. Aber aus damaliger Sicht erschien es selbstmörderisch: ein erschreckendes Anzeichen von Schwäche in einem nützlichen Bürger. Als man ihm die Genehmigung verweigerte, ging er vor die Ärztekommission und bekam ein medizinisches Attest – aus therapeutischen Gründen.
Es macht nervös, wenn ein Mann, der die direkte Verantwortung für die Lebensmittelversorgung von einer halben Million Menschen trägt, einer derart tödlichen Therapie unterzogen wird. Das deutet auf eine furchtbare Krankheit hin, schlimmer noch: Es läßt Geisteskrankheit vermuten. Aber die Welt ist kein Rosengarten, und wir finden uns mit den Macken der anderen ab, wenn wir können. Als die Lebensmittelproduktion weiter florierte, war es nicht schwer, über seine Fußwege hinwegzusehen. Und Mr. Coombes Leben verlief in ziemlich geordneten Bahnen; er hatte sogar geheiratet. Allerdings war seine Frau Nahtransportpilotin, so daß sie nur selten zusammen waren. Sie war jung damals, aber sie hatten keine Kinder.
Beinahe zwanzig Jahre lebte er in seinen zwei Zimmern in diesem Block, in gewissenhafter Routine, die belebt wurde durch seine tägliche Klettertour am Highway und bedroht durch die Anzeichen des Alters, aber die einzige Unregelmäßigkeit in dieser Routine war die Anwesenheit seiner Frau, die nach einem nicht erkennbaren Plan kam und ging und für die er zumindest gemischte Gefühle empfunden haben muß. Ich kann nicht behaupten, daß er einen zufriedenen Eindruck machte, aber er schien zumindest nicht unglücklich zu sein. Er funktionierte effizient.
Er verschwand im letzten Herbst, eines Abends auf dem Heimweg. Es verschwinden dauernd Leute; nach Angaben der Miliz eine ganze Menge. Die meisten gehen wahrscheinlich einfach weg und schließen sich einer reisenden Arbeitskolonne an. Einigen gelingt es vielleicht, Ausweismarken zu fälschen und sich wieder in den Staat einzugliedern. Manche dürften auch tot sein, vielleicht versehentlich bei einer Blockreinigung vernichtet oder in die Abwasserkanäle gespült. Leute begehen Selbstmord in den Abwasserkanälen, das weiß jeder; ihre Leichen werden herausgefiltert, identifiziert und wieder freigegeben. Aber nicht alle werden gefunden.
Ich glaube, daß Mr. Coombes nicht so unvernünftig war, sich in
Weitere Kostenlose Bücher