KOR (German Edition)
Fällen hatte sie feststellen müssen, dass diese rätselha f te Aura durch alte Überlieferungen oder moderne, sogenannte urbane Lege n den geprägt wurde. Wenn man voreingenommen auf ein Ziel z u ging, schaffte man es selten, sich von seiner vorgefassten Meinung zu l ö sen. In der Regel wurde dadurch einem bestimmten Ort von außen ein Ste m pel aufgedrückt, der ihn im gewissen Sinne brandmarkte. Nicht selten erwi e sen sich sakrale Orte als natürlich geformte Felsformationen oder Landscha f ten, die im Auge des Betrachters etwas zutiefst Menschenähnliches aufwiesen.
Die Aura, die KOR umgab, war alles andere als von außen geprägt. Die Forschungsstation mit ihren verwitterten Schriftzügen und den schwa r zen Fenstern, in denen sich das Sonnenlicht nicht reflektierte, wirkte anders. Fremdartig und auf eine unbestimmte Art bedrohlich. Gleich einem tiefgefr o renen Al b traum ragte sie aus dem Boden. Zu KOR gab es keine Legenden, sondern nur Fakten. Und diese besagten, dass die Besatzung seit einem Jahr vermisst wurde. Die Einsamkeit des Ortes verstärkte diese Eindrücke um ein Vielfaches.
John Arnold stellte sich neben den Fernseher und ließ seinen Blick über die Zuhörer schweifen. Früher hatte sie sich Agenten stets schlank und adrett vorgestellt. Arnold erwies sich als das genaue Gegenteil davon, weswegen sie ihre Meinung über diesen Berufszweig revidieren musste. Sie kannte ihn erst seit wenigen Jahren, im Gegensatz zu Chad , der seit längerer Zeit mit ihm zusammenarbeitete. Ihr gegenüber verhielt er sich stets korrekt, auch wenn sie von Chad gehört hatte, dass er ein Schürzenjäger und übe r zeugter Sexist sei.
Nachdem sich Arnold der Aufmerksamkeit seines Publikums gewiss war, begann er: „Die Fakten, die ich nun erwähnen werde, sind Ihnen mit Siche r heit bekannt. Betrachten Sie meine Worte als eine Art Resümee der bisher i gen Ereignisse. Danach wird Ihnen Julia Whitehead mögliche r weise nähere Informationen geben können. Die Station KOR wurde im September ve r gangenen Jahres am Pol der Unzulänglichkeit fertiggestellt. Die Kosten b e trugen etwa vierzig M illionen Euro , wie Ihnen Mr. Norton sicherlich bestät i gen wird.“
„Um genau zu sein, einundvierzig M illionen Euro“, warf der Konstru k teur ein. Er schaute in die Runde, als erwartete er, dass seine Aussage ein paar Lacher hervorrufen würde. Sein Blick blieb wieder auf Yui haften.
Sie fühlte sich alles andere als geehrt . Yui war es zwar gewohnt, hin und wieder angegafft zu werden, doch Norton machte dies auf eine plumpe, fast schon widerliche Art. Sie versuchte, diesen Eindruck zu verdrängen und ko n zentrierte sich wieder auf Arnolds Vortrag.
„Also einundvierzig Millionen. Im November desselben Jahres wurde die Station bezogen. Der Leiter der Forschergruppe hieß Allan Whitehead. Das gesamte Team umfasste zwanzig Mitglieder. Es gibt keine Anhaltspunkte darüber, welchen Forschungen Mr. Whitehead nachgehen wollte. Sein Vo r haben erregte allein dadurch Aufsehen, da ss sowohl Station als auch Fo r schungsprojekt durch keine wissenschaftliche Einrichtung, sondern pr i vat finanziert wurden. Das nächste Ereignis fand im vergangenen Dezember statt. Ein Pilot, der mit seinem Flugzeug Post und Verpflegung bringen sollte, fand die Station verlassen vor. Er teilte dies seinen Vo r gesetzten mit, doch die mei n ten lediglich, dass wahrscheinlich alle irgendwo außerhalb Messungen durc h führen würden. Als sich auch nach Tagen niemand über Funk meldete, wurde die St a tion erneut aufgesucht. Das Ärzteteam der japanischen Station Dome Fuji best ä tigte die Aussagen des Piloten. In KOR hielt sich niemand auf. Seitdem fehlt von Allan Whitehead und seinen Leuten jede Spur.“
Die Außenaufnahmen wurden durch einen harten Schnitt von Bildern aus dem Inneren der Station abgelöst.
„Diese Aufnahmen stammen von dem Rettungsteam“, erklärte Arnold. „Sie sehen, was die Sache so sonderbar macht.“
Yui spürte, wie sich auf ihrem Rücken Gänsehaut bildete. In dem Speisesaal stand noch das Geschirr, als hätten die Gäste gerade ihren Platz verla s sen. Auf dem Herd in der Küche stand ein großer Kochtopf, halb voll mit ve r schimmelten Essensresten. Den seltsamsten Anblick boten die Zi m mer der einzelnen Teammitglieder. Die Betten waren nicht gemacht, sämtliche Kle i dung hing noch in den Schränken, und auch sonst schienen die Mitgli e der von Whiteheads Team nichts von ihrem Privatbesitz mitgenommen zu h a ben .
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