Kunst des klaren Denkens
BIAS
Warum Sie gegenüber Autoritäten respektlos sein sollten
Das erste Buch der Bibel macht deutlich, was passiert, wenn man der großen Autorität nicht mehr gehorcht: Man wird aus dem Paradies vertrieben. Das wollen uns auch die kleinen Autoritäten glauben machen – die Politexperten, Wissenschaftler, Ärzte, CEOs, Ökonomen, Regierungschefs, Sportkommentatoren, Unternehmensberater und Börsengurus.
Autoritäten werfen zwei Probleme auf. Erstens die oft ernüchternde Erfolgsbilanz. Es gibt ca. eine Million ausgebildeter Ökonomen auf diesem Planeten. Kein einziger hat das Timing der Finanzkrise exakt vorausgesagt, geschweige denn, wie die Sequenz vom Platzen der Immobilienblase über den Zerfall der Credit Default Swaps bis hin zur ausgewachsenen Wirtschaftskrise ablaufen würde. Nie hat eine Expertengruppe spektakulärer versagt. Ein Beispiel aus der Medizin: Bis ins Jahr 1900 war es nachweislich besser, als Kranker nicht zum Arzt zu gehen, weil der Arzt den Zustand nur verschlimmert hätte (mangelnde Hygiene, Aderlass und andere schiefe Praktiken).
Dass Autoritäten oft nachweislich falschliegen, ist nur das eine Problem. Irren ist menschlich. Gravierender wiegtdie Tatsache, dass wir in der Präsenz einer Autorität das selbständige Denken um eine Stufe zurückschalten. Wir sind gegenüber Expertenmeinungen viel unvorsichtiger als gegenüber anderen Meinungen. Und: Wir gehorchen Autoritäten, selbst dort, wo es rational oder moralisch keinen Sinn macht. Das ist der Authority Bias .
Am deutlichsten hat dies der junge Psychologe Stanley Milgram 1961 in einem Experiment gezeigt. Dort wurden Versuchspersonen angehalten, einer anderen Person, die jenseits einer Glasscheibe saß, immer stärkere Stromstöße zu verpassen. Angefangen mit 15 Volt, dann 30 Volt, 45 Volt und so weiter – bis hin zu fast tödlichen 450 Volt. Selbst als die malträtierte Person vor Schmerzen schrie und zitterte (es floss kein Strom, es war ein Schauspieler) und die Versuchsperson das Experiment abbrechen wollte, sagte Professor Milgram ruhig: »Machen Sie weiter, das Experiment verlangt es so.« Und die meisten machten weiter. Über die Hälfte aller Versuchspersonen ging auf die maximale Stromstärke hoch – aus reinem Autoritätsgehorsam.
Dass der Authority Bias gefährlich sein kann, haben die Fluggesellschaften in den letzten Jahrzehnten gelernt. Viele Unfälle gehen darauf zurück, dass der Flugkapitän einen Fehler begeht, der Kopilot dies merkt, aber sich aus lauter Autoritätsgläubigkeit nicht getraut, den Fehler anzusprechen. Seit etwa 15 Jahren werden die Piloten fast aller Fluggesellschaften im sogenannten »Crew Resource Management« geschult. Dort lernen sie, offen und schnell Ungereimtheiten anzusprechen. In anderen Worten: Sie trainieren sich den Authority Bias mühsam weg.
In vielen Firmen hinkt man den Airlines um Jahrzehnte hinterher. Besonders bei einem dominanten CEO ist die Gefahr groß, dass die Mitarbeiter dem Authority Bias unterliegen. Sehr zum Schaden der Firmen.
Experten wollen erkannt werden. Darum müssen sie ihren Status irgendwie signalisieren. Ärzte und Forscher durch ihren weißen Kittel. Bankdirektoren durch Anzug und Krawatte. Die Krawatte hat keine Funktion, sie ist nur Signal. Könige tragen Kronen. Im Militär gibt es Rangabzeichen. In der katholischen Kirche sind die Autoritätssignale besonders schön ausgeprägt. Heute zählen noch andere Signale: Einladungen an Talkshows, Bücher und Publikationen.
In jeder Zeit sind andere Autoritäten »in«. Mal sind es Priester, mal Könige, Krieger, Päpste, Philosophen, Dichter, Rockstars, Fernsehmoderatoren, Dotcom-Firmengründer, Hedge-Fund-Manager, Zentralbankpräsidenten. Es gibt also eine Autoritätsmode, und die Gesellschaft folgt ihr gerne. Vollkommen abstrus wird es, wenn Autoritäten gebietsübergreifend ernst genommen werden wollen. Zum Beispiel wenn ein Tennisprofi Kaffeemaschinen empfiehlt oder eine Schauspielerin Migränetabletten. Mehr dazu im Kapitel über den Halo Effect .
Wann immer ich einen Experten treffe, versuche ich, ihn herauszufordern. Tun Sie das auch. Je kritischer Sie Autoritäten gegenüber eingestellt sind, desto freier sind Sie. Und desto mehr dürfen Sie sich selbst zutrauen.
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