Land der Erinnerung
Verbindung mit Frankreich Verzückung in mir hervorruft, entspringt der Erkenntnis seiner Katholizität. Der Mensch der protestantischen Welt ist morbid: er ist beklom-men in seiner Seele. Etwas nagt an ihm, etwas, das ihn freud-los macht. Sogar Katholiken, die in einer solchen Welt geboren sind, nehmen die kalte, gehemmte Art ihrer protestantischen Nachbarn an. Der amerikanische Katholik ist vom Katholiken Frankreichs, Italiens oder Spaniens völlig verschieden. In seinem Geist ist nichts Katholisches. Er ist genauso puritanisch, genauso unduldsam und genauso engherzig wie der protestantische Amerikaner. Man versuche einmal, sich einen katholischen amerikanischen Schriftsteller vorzustellen, der über den Schwung, den Reichtum, die Sinnlichkeit von Männern wie Claudel und Mauriac verfügte. Es gibt keinen.
Frankreichs Tugend besteht darin, daß es seine Katholiken katholisch gemacht hat. Es hat sogar seine Atheisten katholisch gemacht, und das will viel heißen. Ganz, universell machend, alles einbegreifend: das ist der ursprüngliche Sinn von ‹katholisch›. Es ist die Haltung, die der Heiler einnimmt.
Diese umfassendere Bedeutung des Wortes ist etwas, worauf sich die Franzosen als Volk par excellence verstehen. In einer katholischen Welt leben die Kleinen und Großen Seite an Seite, ebenso wie die Vernünftigen und die Wahnsinnigen, die Kranken und die Gesunden, die Starken und die Schwachen.
Nur in einer solchen Welt kann sich wahre Individualität be-haupten. Man denke nur an die Verschiedenheit der Typen, die allein schon unter den Schriftstellern Frankreichs herrscht -
heute wie in jeder Epoche der Vergangenheit. Ich kenne 46
nichts, was dem gleichkäme. Tatsächlich besteht ein größerer Unterschied zwischen den einzelnen französischen Schriftstellern, als zwischen einem deutschen und einem französischen.
Man könnte sagen, daß es zwischen Dostojevskij und Proust mehr Gemeinsames gebe als zwischen Celine und Breton oder zwischen Gide und Jules Romains. Und doch gibt es einen Faden, einen zähen und ungebrochenen, der so einmalige Schriftsteller wie Villon, Abélard, Rabelais, Pascal, Rousseau, Bossuet, Racine, Baudelaire, Hugo, Balzac, Montaigne, Lautreamont, Rimbaud, Nerval, Dujardin, Mallarmé, Proust, Mauriac, Verlaine, Jules Laforgue, Roger Martin du Card, Duhamel, Breton, Gide, Stendhal, Voltaire, Sade, Léon Daudet, Paul Eluard, Blaise Cendrars, Joseph Delteil, Péguy, Gi-raudoux, Paul Valery, Francis Jammes, Elie Faure, Céline, Giono, Francis Carco, Jules Romains, Léon Bloy, Supervielle, Saint-Exupéry, Jean-Paul Sartre verbindet, um nur einige wenige zu nennen.
Die Homogenität französischer Kunst hat ihren Ur-
sprung nicht in der Einförmigkeit der Gedanken oder der Umgebung, sondern in der unendlichen Vielfalt des Bodens, des Klimas, der Landschaft, der Sprache, der Bräuche und des Blutes. Jede Provinz Frankreichs hat ihren Beitrag zur Schöpfung seiner Kultur geleistet.
Was die Franzosen mehr als alles andere verbindet, ist die Liebe zur Erde. Jakob Wassermann hat in seinem Buch
‹Mein Weg als Deutscher und Jude› auf die Beziehung zwischen dem Stil eines Schriftstellers und der Landschaft, in die er hineingeboren wurde oder die er sich zur Heimat gewählt hat, hingewiesen.
Jede Landschaft, schreibt er, die irgendwie ein Teil unseres Schicksals wird, erzeugt einen bestimmten Rhythmus in uns, einen Rhythmus des Fühlens und des Denkens, der meistens unbewußt bleibt und darum nur um so ein-schneidender wirkt. Es sollte möglich sein, aus dem Satzbau der Prosa eines Schriftstellers die Landschaft zu erkennen, die sie verbirgt, wie eine Frucht ihren Kern verbirgt... Die Landschaft, in der jemand lebt, gibt nicht nur den Rahmen des Bildes; sie durchdringt sein ganzes Wesen und wird ein Teil von ihm. Das kann natürlich bei Primitiven viel klarer gesehen 47
werden als im Umkreis der Zivilisation. Darum spielten Flüs-se, Wüsten, Oasen und Haine eine so wichtige Rolle bei der Entstehung von Mythen, die oft nur das Landschaftserlebnis einer langen Folge von Generationen darstellen . . . Persönlichkeit entsteht an der Stelle, wo das innere und das äußere Landschaftsbild aneinanderstoßen, wo das Mythische und Dauernde in begrenzte Zeit einströmen. Und jedes literarische Werk, jede Tat, jede Leistung ist das Ergebnis einer Verschmelzung von Greifbarem und Ungreifbarem, von innerer Schau und wirklichem Bild, von Idee und der tatsächlichen Situation, von VorstelI lung und
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