Land der Erinnerung
Form. Das äußere Landschaftsbild der Welt braucht nicht mehr entdeckt zu werden, obschon sein Einfluß und seine Wirkung auf die Seele noch nicht voll erforscht sind. Doch die innere Landschaft des Menschen bleibt weithin terra incognita, und wenn es gilt, diese unbekannte Gegend zu erhellen, dann ist unsere sogenannte Psychologie nur ein bleiches Lämpchen.
Im Falle eines Schriftstellers wie Alain-Fournier, des Verfas-sers von ‹Der Große Kamerad›, wird die Genauigkeit von Wassermanns Beobachtung überzeugend sichtbar. Der Zauber, den dieses Buch noch immer ausübt, entspringt aus der ge-glückten Verschmelzung von innerer und äußerer Landschaft.
Die Aura des Wunderbaren, die es umgibt und ihm seinen Reiz und seine Strenge verleiht, erwächst der Verbindung von Traum und Wirklichkeit. Die Gegend der Sologne, in der der Autor geboren wurde und die besten Jahre seiner Jugend verbrachte, ist der Schauplatz, durch den er uns wie im Traume führt. Die Gegend ist bekannt für ihren milden, ausgewogenen und unaufdringlichen Charakter; es ist eine Gegend, die
«jahrhundertelang humanisiert» wurde, wie es ein französischer Schriftsteller ausdrückt. Wie überaus geeignet daher, Traum und Sehnsucht zu wecken!
Seit dem Tage seines Erscheinens vielerorts begrüßt, fand dieser kleine Klassiker hier in Amerika nur ein bescheidenes Echo. Und doch ist das Buch genau von der Art, die unter Amerikanern verbreitet werden sollte. Es ist durch und durch französisch, jedoch auf eine Weise, die Fremde oft nicht schätzen. In einem Brief an seinen Freund Jacques Rivière, geschrieben 1906, spricht der Autor über das ästhetische Prob-48
lem, mit dem er damals rang und dessen Lösung er beim Schreiben von ‹Der Große Kamerad› auf so bewundernswerte Weise gefunden hat. «Mon credo en art et en littérature est l'enfance. Arriver à la rendre sans aucune puérilité, avec sa profondeur qui touche les mystères. Mon livre futur sera peut-
être un perpétuel va-et-vient insensible du rêve à la réalité:
‹rêve› entendu comme l’immense et imprécise vie enfantine planant au-dessus de l'autre et sans cesse mise en rumeur par les échos de Vautre.»
Alain-Fournier
ist
zwar
keiner der großen französi-
schen Schriftsteller, aber er ist einer, der, wenn auch die Zeit sich geändert hat, dem französischen Herzen immer lieber wird. Er ist, wie Peguy auch, einer von denen, die uns erkennen lassen, was wirklich französisch ist. Aus ihm spricht die Stimme Frankreichs stark und klar. Es ist noch einmal «la douce France» , das milde, weise, duldsame Frankreich, das sich nur denen offenbart, denen es vergönnt ist, mit ihm auf vertrautem Fuß zu leben.
Es ist eine verbreitete Redensart, daß in Frankreich die Kinder alt geboren werden. Das Ungestüm und die Ausgelassenheit der Jugend ist kurzlebig. Verantwortungen werden auf die Schultern geladen, noch ehe man die Flegeljahre hinter sich gebracht hat. Die Folge ist die Kultivierung des Spiel-triebs. Das Kind wird geliebt, der Weise geachtet, die Toten werden geehrt. Die Kunst aber durchdringt alle Lebensberei-che, vom Heiligtum bis zur Küche. Um den Geist Frankreichs zu ergründen, muß man seine Kunst studieren; dort zeigt er sich unverhüllt.
Kaum war der Krieg beendet und die Verbindung wie-
derhergestellt, da hörten wir von der mutigen Beharrlichkeit der Künstler. Beinahe das erste, was Frankreich von der Au-
ßenwelt verlangte, waren Bücher - Bücher und Druckpapier.
Während des ganzen Krieges hatten seine großen Maler ihre Arbeit fortgesetzt. Die älteren zeigten eine geradlinige Entwicklung und eine erstaunliche Entfaltung, bedenkt man ihre Isolierung. Die Schrecken des Krieges hatten den Geist der Künstler nicht aufgerieben, sondern vertieft. Sowohl jene, die geflohen, als auch die, die zurückgeblieben waren, hatten etwas Neues und Kraftvolles aus den Jahren der Niederlage und 49
Demütigung vorzuweisen. Ist das nicht das Zeichen eines un-besiegbaren Geistes? Die Feinde Frankreichs hätten es zwei-fellos lieber gesehen, wenn seine Künstler bis zum letzten Mann gestorben wären. Für sie riecht dieses Bild einer stillen, beharrlichen Hingabe an die Kunst nach Feigheit und Resi-gnation. Wie kann ein Mensch weiterhin Blumen oder Ungeheuer malen, wenn der Absatz des Eroberers seinem Land im Nacken steht, so fragen sie. Die Frage beantwortet sich selbst. Sie haben keine «Blumen oder Ungeheuer» gemalt! Sie malten die Erfahrungen, die ihre
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