Landgericht
jüdischer Konfession
Zur Vorbereitung der Wiedergutmachung des den deutschen Bürgern jüdischer Konfession oder Abstammung zugefügten moralischen und materiellen Unrechts wird die Erfassung des fraglichen Personenkreises durchgeführt. Sämtliche im Kreis Lindau (B) wohnhaften deutschen Bürger jüdischer Konfession oder Abstammung werden hiermit aufgefordert, bis spätestens 20. Januar 1946 ihrem zuständigen Bürgermeister schriftlich Meldung zu machen nach folgendem Muster:
Zu- und Vorname
Ob Volljude (im Sinne der Nürnberger Gesetze oder Mischling I. oder II. Grades)
Geburtsort und -tag
Letzter Wohnsitz
Familienstand
Früherer Beruf
Jetziger Beruf
Gesundheitliche Schäden
Vermögensverluste
Die Bürgermeister legen die Meldungen gesammelt bis längstens 1.
Februar 1946 dem Landrat vor.
Der Landrat: gez. Dr. Eberth
Die Ausschreibung traf nicht auf Claire Kornitzer zu, aber sie war wie ein Haltegriff, ein Rettungsring, eine Gewißheit, daß sie gehört werden würde und daß sie ihrem Mann, auf den die Ausschreibung zutraf, Gehör verschaffen würde. Nur: Sie hatte keine Vorstellung über die Mittel, mit denen ihr Mann sie finden konnte und sie ihn. Sie hatte auch keine Vorstellung, wie viele Menschen sich im Landkreis auf diesen Aufruf melden würden. Die Meldefrist war äußerst knapp bemessen, man mußte sich auf den Hosenboden setzen, um die Unterlagen zusammenzutragen und sorgsam aufzulisten. War die Frist so knapp, weil es plötzlich – gut ein halbes Jahr nach Kriegsende – peinvoll war, daß bis jetzt niemand nach Juden gefragt hatte (als hätte sich das „Judenproblem“ in Auschwitz, in Majdanek erledigt), oder war die Frist deshalb so knapp bemessen, damit sich nur wenige Zurückgekehrte oder aus den Verstecken Gekrochene melden konnten? Claire rätselte darüber, kam aber zu keinem Schluß.
Daß nur 681 Juden in der Französischen Zone überlebt hatten, konnte sie nicht wissen, und hätte sie es gewußt, wäre sie nicht verwundert, nur todtraurig gewesen.
Gleich neben dem Aufruf hatte sie eine Anzeige gefunden:
Großer Rucksack mit Lederriemen gegen einen Meter trockenes Tannenoder Buchenholz zu tauschen gesucht
. Ja, Brennholz war gesucht, aber Transportmittel waren auch begehrt. Im Rucksack war nicht genügend Holz zu transportieren. Vielleicht hatten manche Städter Rucksäcke, mit denen sie am Wochenende Wanderungen in die Berge gemacht hatten, und Gartenbesitzer fällten ohne Bedenken ihre Bäume, Tannen, Buchen. Die Pfempfles, die Bauern, bei denen sie wohnte, dachten nicht daran, ihre Obstbäume zu fällen, die Bäume waren die Grundlage des Hofes, sie waren etwas, das immer zur Familie gehörte, wie das Milchvieh. Auf der gegenüberliegenden Seite fand sie die Anzeige:
Meinen Schülern zur Kenntnis, daß der Zither-Unterricht wieder am Dienstag, den 22. Januar 1946 beginnt. Das
Unterrichtszimmer
befindet sich in der Hauptstraße 27/III bei Herrn Zollsekretär Merkl. Neuanmeldungen ebenso dort erbeten
. Und sie las auch von der dringenden
Suche nach einem Bassisten (Schlagbaß) sowie einem Cellisten und einem Posaunisten
, außerdem wurde
eine routinierte Schlager-(Refrain)-Sängerin gesucht
. Zu richten waren die
Eilangebote an das Konzert- und Tanzorchester Otti Weber-Helmschmied
.
Das las sie alles sehr sorgfältig, und sie versuchte sich einzufühlen in die Leute, die solche Anzeigen aufgaben. Und sie versuchte auch, sich vorzustellen, andere Menschen in ihrer nun einmal nicht freiwillig gewählten Umgebung fühlten sich in ihre, Claire Kornitzers, Situation ein: die Kinder weit weg, damit sie überlebten, der Mann noch sehr viel weiter weg, damit er überlebt. Und der Kriegsbeginn, die unsinnige Anzettelung des Krieges, der ein Weltenbrand wurde, verhinderte ihre Auswanderung, verhinderte die Vereinigung des Vaters mit den Kindern, verhinderte ihre Vereinigung mit ihrem Mann auf einem anderen Kontinent. All das hinterließ Narben, Erschütterungen, Verluste, die einem Fremden kaum begreiflich zu machen waren. Rucksäcke, Feuerholz und eine Zither tauchten aus dem Nebel auf; Posaunisten und Bassisten stießen dazu und versanken wieder im Nebel. Und so mußte sie sorgsam und ohne allzu viel Gefühlsballast in den entsprechenden Lücken der Formulare schreiben, nicht zu viel, keinesfalls zu viel, aber doch kraftvoll und nicht zaghaft. Und so schrieb sie.
„Betr. Erfassung deutscher Bürger jüdischer Konfession oder Abstammung.
Auf Grund des Aufrufes im Amtsblatt (Nr. 4 vom 15.
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