Landgericht
Über dem See
Er war angekommen. Angekommen, aber wo. Der Bahnhof war ein Kopfbahnhof, die Perrons unspektakulär, ein Dutzend Gleise, aber dann betrat er die Bahnhofshalle. Es war ein großartiges Artefakt, eine Bahnhofskathedrale, von einem kassettierten Tonnengewölbe überspannt, durch die Fenster flutete ein blaues, fließend helles Licht, ein Licht wie neugeboren nach der langen Reise. Die hohen Wände waren mit dunklem Marmor verkleidet, „reichskanzleidunkel“, so hätte er ironisch vor seiner Emigration diesen Farbton für sich genannt, jetzt fand er ihn nur herrschaftlich und vornehm, ja auch einschüchternd. Aber der Marmor war nicht einfach nur als Verkleidung auf die Wand gebracht worden, sondern ebenfalls abgesetzt, abgetreppt, so daß die Wände rhythmisch gegliedert waren. Der Fußboden blank, hinter den Schaltern ordentlich uniformierte Männer, die durch ein rundes Fensterchen blickten, davor Schlangen von Menschen, die gar nicht so schlecht gekleidet waren. (Wenn er bedachte, es handelte sich um Kriegsverlierer, um Geschlagene, trugen sie den Kopf erstaunlich hoch.) Er sah auch französisches Wachpersonal in den Nischen der Halle, das einen höflichen Blick hatte auf das Bahnhofstreiben. Die Männer trugen olivfarbene Uniformen und Waffen. Wie er mit einem Blick die vornehme Halle erfaßte, konnte er sich keinen Anlaß eines Eingreifens vorstellen, und dabei blieb es auch. Eine stille, mahnende, Gewißheit herbeizwingende Gegenwart.
Er spürte die beruhigende Zivilisiertheit, die Zeitlosigkeit dieser Bahnhofshalle, er sah die hohen Schwingtüren, sicher drei Meter hoch und ganz mit Messingblech verkleidet. Mit feiner Schreibschrift war das Wort „Drücken“ in die Messingoberfläche graviert worden, etwa in Brusthöhe. Kathedralentüren, Türen, die dem Reisenden alle Allüren nahmen, das Bahnhofswesen war wichtig und bedeutend, und der einzelne Reisende würde schon sicher und pünktlich an sein Ziel kommen. Kornitzers Ziel war so lange im Ungefähren geblieben, nicht einmal ein verschwommenes Sehnsuchtsziel dachte er sich aus, so daß er diesen Widerspruch überaus schmerzlich empfand. Seine transitorische Existenz war ihm Gewißheit geworden. Alles war erhaben und auf gediegene Weise erhebend in dieser Halle, er sah sich um, er sah seine Frau, der er seine Ankunftszeit mitgeteilt hatte, nicht. (Oder übersah er sie nach zehn Jahren?) Nein, Claire war nicht da. Zu seiner Überraschung sah er aber zahlreiche Tagestouristen, die mit geschulterten Skiern aus dem nahen Wintersportgebiet kamen, freudig aufgekratzt, mit gebräunten Gesichtern.
Er stieß eine der hohen Türen auf und war geblendet. Hier lag der See, der große blaue Spiegel, nur ein paar Schritte waren es zum Kai, sanftes Wasser schwappte heran, kein Kräuseln der Oberfläche. Natürlich hatte sich seine Ankunft verzögert, um gut zwei Stunden, aber dieses Verzögern kam ihm wie eine Überdehnung vor, die Freude, anzukommen und seine Frau wiederzusehen, war in eine unbestimmte Zeit verwiesen. Hier war der Leuchtturm, der aus dem Wasser aufragte, hier war der bayerische Löwe, der mit gelassener Herrschaftsgeste den Hafen bewachte, und dort waren die Berge, die fernen und gleichzeitig nahen Berge, eine Kulisse aus Weiß und Grau und Alpenrosa, ihr Geschiebe, ihre archaische Kraft, unverrückbar, unerhört schön. Da hörte er seinen Namen rufen.
Das Wiedersehen eines Mannes und einer Frau, die sich so lange nicht gesehen hatten, sich verloren glauben mußten. Das atemlose Erstarren, Sprachlosigkeit, die Augen, die den Blick des anderen suchen, sich festklammern am Blick, Augen, die groß werden, trinken, sich versenken und sich dann abwenden wie erleichtert, ermüdet von der Arbeit des Wiedererkennens, ja, du bist es, du bist es immer noch. Das ganze Gesicht, das sich in den Mantelkragen bohrt, sich dann aber wieder rasch hochreckt, die zitternde Erregung, die den anderen Augen, den zehn Jahre vermißten Augen, nicht standhält. Die hellen, wäßrigen Augen des Mannes hinter der Nickelbrille und die grünen Augen der Frau, die Pupillen haben einen dunklen Ring. Es sind die Augen, die das Wiedersehen inszenieren, aber die, die es aushalten müssen, die ihm standhalten müssen, sind veränderte, in die Jahre gekommene Menschen, etwa gleich groß, auf gleicher Augenhöhe. Sie lächeln, sie lächeln sich an, die Haut um die Augen faltet sich, kein Wimpernzucken, nichts, nichts, nur der Blick, der lang ausgehaltene Blick, die Pupillen
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