Landkarten des Lebens
Fahrt auf dem Gelände der FH ein wenig die Füße vertrete, spüre ich auf einmal sehr klar und deutlich, warum es so essenziell wichtig ist, sich auch negative Erfahrungen und Erlebnisse noch einmal zu vergegenwärtigen, denn mir fallen auf einmal wieder Dinge ein, die an meiner Studienzeit trotz allem gut waren: die Gemeinschaft mit den anderen Studenten, die Tatsache, dass meine betriebswirtschaftlichen Kenntnisse mir auch heute noch jeden Tag nützen, die Partys, die wir gefeiert haben. Wie ich so an meine Kommilitonen denke und an das, was aus ihnen geworden ist, merke ich noch etwas: Die Tatsache, dass ich heute etwas ganz anderes mache als das, wofür ich eigentlich ausgebildet wurde, erfüllt mich nicht im Geringsten mit Bedauern. Ich missgönne auch keinem meiner Kommilitonen den Erfolg, den sie heute als Bürgermeister oder hochrangige Verwaltungsfachleute haben. Meine Anwesenheit hier und heute an diesem Ort ist für mich vielmehr eine wichtige Bestätigung dafür, dass ich den besten Weg eingeschlagen habe. Dass ich diesen Ort verlassen habe, war gut und richtig. Dass ich woanders einen Neuanfang gemacht habe, war gut und richtig. Selten war mir das so klar, wie in diesem Moment, in dem ich einen alten Standpunkt wieder einnehme.
Ich bin zutiefst überzeugt davon: Wer sich vor negativen Emotionen schützen will, indem er nicht mehr an die Orte reist, die für ihn negativ besetzt sind, verschenkt eine große Chance. Er wird nicht erkennen, dass in all dem Negativen auch Positives verwurzelt ist und dass man von diesen guten Wurzeln profitieren kann. Sicher, eine solche Reise an die Orte der eigenen Vergangenheit zu machen kann sehr schmerzhaft sein. Mitunter fühlt man sich wie auf einer emotionalen Achterbahn, denn selten sind Orte nur schlecht oder nur gut besetzt, und zwischen diesen beiden Polen saust man dann hin und her. Aber, und das ist das Fazit meiner Reise an die Orte meiner Kindheit und Jugend, am Ende überwiegt das Gute. Und es ist lange nicht so schwierig, sich mit den negativen Aspekten der Orte auf der eigenen Lebenslandkarte auszusöhnen, wie man befürchtet hat. In der Erinnerung sind die Dinge manchmal viel größer und monströser als in Wirklichkeit. Schafft man es dann auch noch, seinen Fokus auf das zu richten, was an einem Ort gut war, versieht man diesen Ort darüber hinaus mit einer positiven Stimmung und Aura und findet einen neuen guten Zugang zu einem wichtigen Teil der eigenen Identität.
Gundula Gause
Wo komme ich her?
Ist das Leben nicht eigentlich eine Reise? Kann man überhaupt in der gegenwärtigen Medienwelt Städten und Orten noch eine eigene Bedeutung beimessen? Ich sitze in einem Zug und fahre quer durch ein wunderschönes Land: Deutschland. Blauer Himmel, Sonnenschein. Meine Blicke wandern hin und her zwischen der vorbeifliegenden Landschaft, größeren und kleineren Städten, die mit ihren Kirchtürmen wie gemalt zwischen Bergen und Tälern der deutschen Mittelgebirge liegen, und dem Bildschirm, über den ich digital mit der Welt verbunden bin. Und die Gedanken wandern zu Höhen und Tiefen, Sackgassen und Grenzen, Spuren meines Lebens, über die ich nun also schreiben möchte und die mich – wenn man Städtenamen nennen möchte – nach Berlin, Lissabon und Mainz führen.
In Berlin beginnt meine Erinnerung, denn in dieser damals noch geteilten Stadt wurde ich 1965 geboren. Man weiß, in den Nachkriegsjahren war das Lebensgefühl in Berlin, das vom Zweiten Weltkrieg so sehr geschunden wurde und als Symbol für das frühere Nazi-Deutschland stand, ein vollkommen anderes als heute. Mit der Gründung der zwei deutschen Staaten 1949, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, war Berlin eine in Ost und West geteilte, eingeschlossene Stadt, „umzingelt von der DDR“. Es herrschte „Kalter Krieg“ – die Bedrohung durch die atomare Aufrüstung war spürbar und Gegenstand vieler politischer Diskussionen auch in meiner Schulzeit. In den 70er- und 80er-Jahren konnte sich kaum jemand der Macht der unterschiedlichen Systeme und der dadurch geprägten Menschenbilder entziehen.
Heute ist Berlin eine quirlige, moderne Großstadt, deren Bedeutung in Europa immer weiter zunimmt: Berlin ist das politische Herz dieses europäischen Deutschlands. Wirtschaft und Wissenschaft, Kunst und Kultur sind dort vertreten. Berlin ist hip – und tatsächlich immer eine Reise wert.
Wie anders war das Lebensgefühl in Berlin direkt nach dem Zweiten Weltkrieg? Mein Vater, der mit
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