Lehtolainen, Leena
Polizei.»
«Die Polizei? Das können wir nicht … Außer wenn Sirpa es will.»
«Du rufst die Polizei. Und lass Sirpa nicht mit Ari gehen.»
«Aber wenn sie es will …» Anneli schien verblüfft über meinen scharfen Ton.
«Du lässt sie nicht gehen. Sag ihr, die Kinder müssen die Nacht durchschlafen. Ich komme um halb acht, morgen früh rede ich mit ihr. Hoffentlich hast du eine ruhige Nacht!»
Sulo miaute ungeduldig, er wollte seinen Abendspaziergang machen, aber ich musste zuvor etwas Joghurt essen. Sonst goss ich ihn meistens in eine kleine Schüssel, aber diesmal nahm ich es nicht so genau, sondern trank gleich aus dem Becher. Außer mir aß ja sowieso niemand davon. Dann legte ich Sulo an die Leine. Ich wagte nicht, ihn frei laufen zu lassen, um keinen Ärger mit den Nachbarn zu bekommen, und er hatte sich längst daran gewöhnt.
Es war kaum halb acht, aber schon dunkel. Sulo lief zum Ackerrand, er hoffte wohl, eine Wühlmaus zu schnappen. Sein Auge funkelte begehrlich, das weiche Bündel hatte sich plötzlich in ein beutegieriges Raubtier verwandelt. Er würde überleben, auch wenn ich nicht da wäre, er würde sich zu verteidigen wissen. Sein Katzeninstinkt sagte ihm, dass Sanftmut sich nicht auszahlte. Ich sollte zum Jäger werden, wie er. Irja Ahola konnte ich nicht mehr helfen, aber Sirpa Väätäinen konnte ich noch retten. Ich musste handeln, bevor Ari sie erschlug. Ich wollte nichts mehr dem Schicksal überlassen, sondern selbst entscheiden.
Zwei
Zwei
Das Frauenhaus Schutzhafen befand sich mitten in einer friedlichen Eigenheimsiedlung. Es war vor vier Jahren mit dem Geld gegründet worden, das Anna Hautala, die Gemeindeschwester von Espoonlahti, testamentarisch dafür bestimmt hatte. Sie hatte keine näheren Angehörigen gehabt und wollte ihr Haus und ihr Vermögen dafür verwendet wissen, gegen Gewalt in der Ehe zu kämpfen und Familien zusammenzuhalten. Träger war eine Stiftung, in deren Vorstand Vertreter der Kirchengemeinde, des städtischen Sozialamts und der Familien saßen, die ihre Gewalt-probleme überwunden hatten. Natürlich gehörte auch Pauli Peltola, der Leiter, dem Vorstand an. Das Haus hatte zehn Beleg-plätze und einschließlich Haushaltspersonal sieben Mitarbeiter.
Als ich mein Fahrrad am Ständer im Hof abstellte, fielen von den Ahornen, die das Haus umstanden, orangegoldene Blätter auf mich herab. Es war ein strahlender Morgen, aber ich wusste, der Sonnenschein war trügerisch. Er würde nur ein paar Stunden wärmen und die Welt dann dem Frost und der Fäulnis überlassen. Ich hatte den Herbst nie gemocht. In meiner Kindheit verband ich damit lange, dunkle Abende beim Beeren-pflücken und auf den Feldern, erdverkrustete steife Finger, Hirschlausfliegen in den Haaren. Jetzt rief meine Mutter jeden zweiten Tag an und bat mich, zur Kartoffelernte nach Hause auf den Hof zu kommen, der inzwischen auf meinen Bruder Aimo übergegangen war. Der Gedanke, ein Wochenende mit meinen schnatternden Schwägerinnen zu verbringen, war entsetzlich, aber ich konnte kaum Nein sagen, nachdem ich mich schon vor der Heuernte gedrückt hatte, unter dem Vorwand, ich hätte beruflich so viel zu tun. Dabei hatte ich meinen Urlaub in Wahrheit ausnahmsweise mitten im Sommer genommen und meine Kollegen angeschwindelt, ich müsste nach Kuusjärvi zur Heuernte.
Es war ein ganz normaler Morgen im Schutzhafen. Wir hatten zurzeit sieben Gäste: Sirpa Väätäinen mit ihren Kindern und drei weitere Frauen, von denen zwei nur deshalb im Frauenhaus waren, weil sie keine Wohnung hatten. Die dritte, Anja Jokinen, war ein trauriges Beispiel für die Ungerechtigkeit des Lebens.
Anja war etwas über sechzig und verwitwet. Der ältere Sohn der Familie hatte vor rund fünf Jahren seinen Vater umgebracht, weil der ständig die Mutter verprügelte. Jetzt verweste Teuvo Jokinen im Grab, sein Mörder, der vierunddreißigjährige Kaarlo, saß im Gefängnis, und der zwei Jahre jüngere Sohn Heikki hatte angefangen, seine Mutter zu schlagen, wenn sie seine Sauftouren nicht finanzierte. Anja, die es nach mehr als zehn Prügeljahren gerade erst geschafft hatte, die Reste ihres Selbstbewusstseins zusammenzukratzen, war im Nu völlig kaputt.
Ich setzte mein fröhliches, ermutigendes Morgenlächeln auf.
Die Sonne schien, die Nacht war vorüber, blaue Flecken würden verheilen, wir konnten etwas tun.
Nur glaubte ich nicht mehr daran. Nach Irja Ahola nicht mehr.
Marjo Väätäinen löffelte lustlos ihren Brei. Minna,
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