Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Decimus Burton: millionaires’ rows hießen damals solche Straßen im Volksmund.
Die Eisenbahnverwaltung schließlich, voller Hybris, die sie Umsicht nannte, widmete dem Ruhm der Stadt ein eigenes Husarenstück: Sie schaffte es, dass die uralte Nachbarstadt Tunbridge, immerhin der Namensgeber für den Kurort, seinen Namen ändern musste. Tunbridge hieß nun Tonbridge, auf dass kein Reisender in Zukunft mehr am falschen Bahnhof seinen Zug verließe. Das tun die Reisenden zwar heute noch, doch bei dem neuen Namen blieb es.
Dann kam der Niedergang auf Zeit: Die neuen Badeorte an der Küste liefen Tunbridge Wells den Rang ab. 1802 hatte die Tänzerin Sarah Baker noch in den Pantiles ein Theater bauen lassen, dessen Bühne kurioserweise in Sussex lag, während der Zuschauerraum bereits zu Kent gehörte: Die alten Grafschaftsgrenzen hatten Tunbridge Wells noch nicht gekannt. 1843 wurde das Theater aufgegeben und zur Getreidebörse umgewandelt. Hoch auf einem Schild am Dach steht immer noch der Name Corn Exchange, und noch immer hält die frisch lackierte Erntegöttin Ceres ihre Sense hoch. Wo die Gesellschaft ausblieb, brauchte man auch kein Theater mehr.
Doch auch diese Zeiten sind inzwischen längst vorüber. Tunbridge Wells, die Partnerstadt von Wiesbaden, ist heute eine blühende Finanzstadt, Ausflugsort und Einkaufstreff, der lebhafte Hauptort des Weald und liegt in der Nähe der meisten historischen Häuser und Schlösser in Kent. Die schmalen viktorianischen Reihenhäuser in der Mount Ephraim Road sind heute prallvoll mit Büros, und ein neues Shoppingcenter dominiert die Innenstadt: Royal Victoria Place. In der High Street bieten Payne Son, die Silberhändler (»established 1790«), ihre Raritäten an, die schon als antik gelten konnten, als ihr Laden neu war. Die Corn Exchange ist jetzt ein Ladencenter, und wie bestellt zum neuen Aufschwung gibt es wieder ein Theater: Nur ein paar Meilen nördlich vor der Stadt entdeckte der Tenor Kim Begley 1989 im Landhaus David Salomons einen ganzen edwardianischen Theatersaal, an dem sein etwa hundertjähriges Bestehen wie ein Tag vorbeigegangen war. Den neuen Eigentümern hatte Broomhill, wie die Stätte heißt, zuletzt als Schulungsraum gedient. Doch schon im Sommer 1991 gab es erstmals wieder ein Konzert in Broomhill, und das berühmte Glyndebourne schickte seinen »Don Giovanni« in das prächtige Theater. Seither mietet der Broomhill Trust jeweils für zwei Monate im Sommer das Theater und veranstaltet Opern, Feste und Konzerte. London liegt noch immer vor der Tür, und Tunbridge Wells ist wieder eine Attraktion wie vor Jahrhunderten: »The company though always numerous, is always select.« – So hatte Anthony Hamilton damals geschrieben. »And joy and pleasure are the sole sovereigns of the place.«
Wooden Walls vom Medway
Rochester und Chatham mit den Historic Dockyards
»Dickens was here« – und sein Spazierstock steht noch heute an der Wand in Rochester. Das Eastgate House von 1590 beherbergt ein Charles Dickens Centre, und was an Bildern, Büchern oder Lebensspuren hier versammelt ist, das passt zum Bild der High Street draußen vor der Tür: schwarzes Fachwerk, rote Ziegelwände, weiß lackierte Planken an der Wetterseite der Fassaden – überall viktorianische Behaglichkeit. Zahlreich sind die Bauten links und rechts des roten Backsteinpflasters, die in Dickens’ Büchern eine Rolle spielen, die imposante Guildhall und das Restauration House, die Kathedrale und das Royal Victoria and Bull Hotel, wo sich der Pickwick Club versammelte: Keine Stadt in England ist so sehr Dickens’ Stadt wie Rochester, sein »Dullborough« und »Cloisterham«, die alte Metropole an der letzten Windung des Medway. Und wer vom Fluss herüberkommt und den Verkehr vergessen kann, der sieht die Stadt womöglich so wie auf den ersten Seiten des Romans »Die Pickwickier«, geführt von dem bemerkenswerten Mr. Jingle: »Schöner Ort, ruhmreiche Gebäude – drohende Mauern – wackelige Torbögen – dunkle Winkel – zerfallende Treppen – auch alte Kathedrale – erdiger Geruch« – und was der Attraktionen mehr sind. Begnügen wir uns mit dem Schlusswort: »Kapital!«
Es gibt im Englischen ein Wort für ein solches Stadtbild: dickensified . Und nirgends trifft das Wort so zu wie hier in Rochester, wo Dickens nie gelebt hat. Auch sein Chalet, in dem er 1870 starb, ist erst später abgetragen und hier neu errichtet worden. Doch in Chatham hat er seine Kinderjahre zugebracht,
Weitere Kostenlose Bücher