Maigret zögert
verwirren zu lassen.
Sie erhob sich, sah sich um und deutete auf einen Stuhl neben dem Fenster, durch das man auf den Hof sah.
»Ich kann Ihnen leider keinen Sessel anbieten. Wenn Sie wollen, können wir in die Bibliothek oder in den Salon gehen.«
»Ich bleibe lieber hier.«
Irgendwo brummte ein Elektrostaubsauger. In einem anderen Büro klapperte eine Schreibmaschine. Eine Männerstimme, aber nicht die Parendons, antwortete ins Telefon: »Aber ja, aber ja. Ich verstehe Sie vollkommen, lieber Freund, aber Gesetz ist Gesetz, selbst wenn es manchmal gegen den gesunden Menschenverstand verstößt ... Ich habe mit ihm darüber gesprochen, selbstverständlich... Nein, er kann Sie weder heute noch morgen empfangen, und übrigens würde das gar nichts nützen...«
»Monsieur Tortu?« fragte Maigret.
Sie nickte. Es war tatsächlich der Referendar, der da im Nebenzimmer so laut telefonierte. Mademoiselle Vague ging zur Tür und schloss sie, und die Stimme verstummte so plötzlich wie in einem Radio, das man ausschaltet. Das Fenster stand einen Spaltbreit auf, und man konnte einen blau uniformierten Chauffeur sehen, der mit dem Schlauch einen Rolls-Royce abspritzte.
»Gehört er Monsieur Parendon?«
»Nein. Den Mietern im zweiten Stock, Peruanern.«
»Hat Monsieur Parendon einen Chauffeur?«
»Er muss einen haben, denn seine Augen sind so schlecht, dass er selbst nicht mehr fahren kann.«
»Was für einen Wagen?«
»Einen Cadillac. Madame fährt ihn häufiger als er, obwohl sie selbst einen kleinen englischen Wagen hat... Stört Sie der Lärm nicht? Soll ich nicht das Fenster schließen?«
Nein. Das Geräusch des spritzenden Wassers passte zu der Atmosphäre, zum Frühling, zu einem Haus wie jenem, in dem er sich befand.
»Sie wissen, weshalb ich hier bin?«
»Ich weiß nur, dass wir uns zu Ihrer Verfügung halten und Ihre Fragen beantworten sollen, auch dann, wenn sie uns indiskret erscheinen sollten...«
Wieder einmal zog er Brief Nummer eins aus seiner Tasche. Nach seiner Rückkehr zum Quai würde er ihn fotokopieren lassen, denn sonst würde er bald nur noch ein Fetzen Papier sein.
Während sie las, studierte er ihr Gesicht, das durch die Hornbrille keinesfalls hässlich wirkte. Sie war nicht schön im üblichen Sinn des Wortes, aber sympathisch. Vor allem ihr voller Mund mit den stets nach oben gerichteten Mundwinkeln zog den Blick an.
»Ja?« meinte sie fragend, als sie ihm das Blatt zurückgab.
»Was halten Sie davon?«
»Was hält Monsieur Parendon davon?«
»Dasselbe wie Sie.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass er auch nicht mehr Überraschung zeigte als Sie jetzt.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln, aber man merkte, dass der Hieb saß.
»Hätte ich anders reagieren sollen?«
»Wenn man mitteilt, dass in einem Haus bald ein Mord geschehen wird...«
»Der kann in jedem beliebigen Haus passieren, oder nicht? Ehe ein Mensch zum Verbrecher wird, verhält er sich doch wohl wie jeder andere, ist wie jeder andere, andernfalls...«
»Andernfalls würden wir künftige Mörder im Voraus festnehmen, stimmt genau.«
Es war sehr eigenartig, dass sie daran gedacht hatte. Im Laufe seiner langen Karriere hatten nur wenige Leute vor Maigret diese simple Überlegung angestellt.
»Ich habe die Annonce aufgegeben. Heute Morgen habe ich einen zweiten Brief bekommen.«
Er reichte ihn ihr, und sie las ihn mit derselben Aufmerksamkeit, aber diesmal auch mit einer gewissen Beklommenheit.
»Ich beginne zu verstehen«, murmelte sie.
»Was?«
»Ihre Besorgnis und auch, dass Sie sich persönlich mit der Untersuchung befassen.«
»Erlauben Sie, dass ich rauche?«
»Aber bitte. Auch ich darf hier rauchen, was in den wenigsten Büros erlaubt ist.«
Mit einer simplen Geste, ohne das affektierte Getue so vieler Frauen, zündete sie sich eine Zigarette an. Sie rauchte, um sich zu entspannen. Sie lehnte sich ein wenig in ihrem verstellbaren Bürostuhl zurück. Das Büro war kein gewöhnliches Büro. Zwar war der Schreibtisch aus Metall, aber gleich daneben stand ein sehr schönes Louis-XIII-Tischchen.
»Ist der junge Parendon ein spaßiger Typ?«
»Gus? Das pure Gegenteil von einem Witzbold. Er ist intelligent, aber verschlossen. In der Schule ist er immer Klassenbester, obwohl er praktisch nie arbeitet.«
»Hat er ein Hobby?«
»Die Musik und die Elektronik. In seinem Zimmer hat er eine perfekte Hifi-Anlage installiert, und er hat auf eine Unzahl wissenschaftlicher Magazine abonniert ... Hier, schauen Sie,
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