Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
wieder zu und drückte es mir in die Hand.
„Sieh es dir nur an, kleine Marie“, sagte er leise. „Es kostet fünfhundert Centimes, weil der Einband aus Samt ist! Streich ruhig einmal darüber mit deinen zarten Fingerlein“, flüsterte er mir zu und spitzte erneut den Mund, der jetzt auffällig rote Lippen hatte. „Hast du denn soviel Geld, mein schönes Mädchen?“
Ich schüttelte enttäuscht den Kopf. Nein, fünfhundert Centimes waren ganz sicher nicht mehr in Großmutters Beutel.
„Nein, es ist aber nicht so schlimm, die Großmutter wollte nur jemandem ein Geschenk machen. Sie wird mich noch einmal schicken, wenn ihr der Preis genehm ist. vielen Dank!“
Vielleicht wollte ich von meiner eigenen Gier ablenken. Dass ich hoffte, der Krämer würde den Preis senken, wenn ich die Großmutter ins Spiel brachte, die in der ganzen Gegend als Respektsperson bekannt war, möchte ich noch immer nicht wahrhaben. Beim Lügen aber spürte ich, wie mir augenblicklich das Blut in die Wangen schoss, und auch, dass Monsieur Chalet mir keinen Glauben schenkte. Er fing vielmehr an, sonderbar in sich hineinzugrinsen und leckte sich dabei unentwegt den roten Mund.
„So, so, die Großmutter will es haben, das Tagebuch! Aha.“
Das war mir jetzt aber doch zu seltsam. Was wollte er von mir?
„Auf Wiedersehen, Monsieur“, sagte ich daher artig, gab ihm das Buch zurück, knickste und wandte mich zum Gehen.
Irgendwie war ich erleichtert. Der Heiligen Klara sei Dank, schoss es mir durch den Kopf, wieder einmal hatte sie mich vor Unheil bewahrt wie damals, als ich beinahe im Flüsschen Rialsesse ertrunken wäre - und natürlich auch davor, die Sache am nächsten Sonntag dem Priester beichten zu müssen.
„Warte, Marie, warte!“
Ich war schon fast an der Tür, als plötzlich der Krämer hinter dem Ladentisch hervorkam und mit seiner mächtigen Gestalt den Ausgang verbarrikadierte.
„Warte einen kleinen Augenblick, Mädchen!“ wiederholte er leise, während ihm der Schweiß in Rinnsalen recht und links die Schläfen hinablief. „Lass mich kurz nachdenken! Vielleicht können wir der Großmutter ein wenig behilflich sein. Das willst du doch auch, nicht wahr?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, danke, Monsieur – ich muss sie wirklich erst fragen. Ich komme nochmals wieder!“
„Doch, du willst es, du willst ihr helfen, ich bin mir ganz sicher!“ Chalet nickte entschieden, als wäre die Antwort, die ich gar nicht zu geben bereit war, längst auf meiner Stirn zu lesen. Seine brennenden dunklen Augen hielten die meinen gefangen.
Ich war zehn Jahre alt. Ich getraute mich nicht mehr, ihm zu widersprechen. Bisher hatte ich stets den kürzeren gezogen, das heißt, den Stock gespürt, wenn ich es gewagt hatte, mich einem Erwachsenen zu widersetzen.
„Was kann ich denn tun, um der Großmutter zu helfen, Monsieur?“ fragte ich daher leise und beobachtete den Mann aus den Augenwinkeln heraus, um seinem hypnotischen Blick endlich zu entkommen.
Von der Küche hörte man das beständige Schlagen des Kuchenteiges: Patsch, klopf, patsch, klopf ...
Warum sagte der Krämer nichts mehr? Wollte er mir nun einen Vorschlag unterbreiten oder nicht? Mir wurde übel. Verstohlen sah ich mich nach einem Ausweg um. Der Mann jedoch stand wie ein eherner Ritter vor dem Ausgang. Wenn nur endlich jemand käme, der dringend Mehl und Zucker brauchte oder eine dieser rot-weiß geringelten Pfefferminzstangen, die so verlockend im Glas standen!
Ich spürte, wie Chalet anfing, mich von oben bis unten zu mustern. Das geblümte Mousselinkleid, das ich anhatte, war ein Erbstück der Nachbarin Suzette, das mir die Großmutter zurechtgeschneidert und mit einem doppelten Saum versehen hatte, damit ich nicht so schnell herauswuchs. Was war daran so sehenswert?
Der Krämer fasste mich unters Kinn und begann, mir mit seiner Rechten über den Kopf zu streicheln.
„Du bist wirklich hübsch, Mädchen! Erweist du mir einen winzigen Gefallen?“
Der Hals wurde mir eng, die Übelkeit nahm zu, ich hatte das unangenehme Gefühl, dass meine Blase randvoll war, und fing daher an, nervös von einem Fuß auf den anderen zu trippeln.
Jetzt machte der Mann mir entschieden Angst. Da nahm ich all meinen Mut zusammen.
„Ich komme ganz sicher noch einmal wieder, Monsieur – gleich morgen, wenn ich die Großmutter gefragt habe!“
Als ich mich aber endgültig an ihm vorbeidrücken wollte, um die Tür aufzumachen, umklammerte er meinen Arm mit eisernem Griff. Dann
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