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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Alruna stand in der Tür und musterte sie, wie sie es immer tat – respektvoll, aber auch ein wenig unnahbar. Kein Mensch war Gunnora je so nahe gekommen wie Alruna in der Stunde, da sie ihr half, Agnarr zu töten, doch das hatte sie zu Verbündeten im Schweigen gemacht, nicht zu Freundinnen, die sich über die Freuden des Lebens austauschten. Beide hatten sie viele davon erlebt, wenn sie dagegen einander anstarrten, so fühlte sich Gunnora weniger ihres Glücks gewiss, das sie gefunden hatte, sondern vielmehr daran gemahnt, dass die Menschen sterblich waren und dass die Zerbrechlichkeit des Lebens nicht nur bedrohlich war, sondern auch befreiend: Starke Menschen wie sie und Alruna konnten noch mit den Scherben der Niedergeschlagenheit, Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit drohen.
    »Bist du so weit?«, fragte Alruna.
    Sie senkte rasch den Blick, um sich weder ansehen zu lassen, was sie beobachtet hatte und ob es sie an das Geheimnis erinnerte, das sie mit ihr teilte, noch was sie davon hielt, dass Gunnora an diesem Tag Richard heiraten würde. Es konnte unmöglich ein Freudentag sein. Zwar war sie mit Arfast glücklich geworden und hatte zwei Kinder bekommen, Osbern und die kleine Agnes, die im selben Alter wie Gunnoras jüngstes Kind Emma war, doch Liebe, dessen war sich Gunnora gewiss, ließ sich nicht bis zu den Wurzeln ausreißen. Selbst wenn sie nicht gedeihen und blühen konnte, wucherte sie womöglich noch irgendwo in Alrunas Herzen.
    Vielleicht ist es ein Irrtum, dass man vergessen kann und soll, dachte Gunnora plötzlich. Vielleicht ist keine Rune machtvoll genug, die Erinnerungen zu bannen, und vielleicht hat das auch sein Gutes, denn Erinnerungen, ob freudige oder leidvolle, sind letztlich weder gefährlich noch zerstörerisch, sondern machen uns zu dem, der wir sind.
    Sie würde endgültig die Gräfin der Normandie sein, einflussreich, angesehen, würdevoll, und Alruna eine Frau, die es geschafft hatte, die Bitterkeit aus ihrem Leben zu verbannen.
    Kurz überlegte Gunnora, Alruna als Zeichen des unausgesprochenen Wohlwollens und der Anerkennung für ihr langjähriges Schweigen die Schriften zu zeigen und einzugestehen, dass ein fremder Mönch sie eben in Bedrängnis gebracht hatte, dass es immer noch wehtat, ihrer Eltern zu gedenken, und dass sie Agnarrs grobe Berührungen manchmal noch zu fühlen glaubte, doch ehe sie ein Wort über die Lippen brachte, wandte sich Alruna ab.
    »Ja, ich bin bereit«, murmelte Gunnora und folgte ihr, um Graf Richards rechtmäßige Ehefrau zu werden.

 
F ÉCAMP
997
    Einige Monate waren seit Graf Richards Tod vergangen, als Agnes sich wieder einmal in die Schreibstube zurückzog. Früher hatte sie den Ort gemieden, heute genoss sie es, dort allein zu sein und unbeobachtet ein Stück Pergament zu beschreiben. Beim ersten Mal, als sie sich hierhergeschlichen hatte, hatte sie jeden Augenblick befürchtet, ertappt zu werden, doch mittlerweile gelang es ihr besser, die Angst zu unterdrücken, dass jemand ihr über die Schultern blickte und sah, was sie da schrieb.
    Ich bin das Kind von Alruna und Arfast, Alruna ist das Kind von Arvid und Mathilda, Mathilda ist das Kind von Hawisa und Rögnvaldr, Arvid ist das Kind von Thure und Gisla. Arvids Ziehmutter ist Runa, und Runas Mutter hieß Asrun.
    Zufrieden blickte sie auf das Geschriebene, und wie immer pochte ihr das Herz bis zum Hals. Nicht das, was sie geschrieben hatte, war verboten – jedoch wie sie es geschrieben hatte, nämlich in Runen.
    Dies hatte sie zur Bedingung für ihr Schweigen gemacht. Sie wollte lernen, wie man in Runen schrieb und welche Macht die einzelnen Zeichen hatten, und die Gräfin hatte sich tatsächlich darauf eingelassen.
    Bis heute war Agnes nicht sicher, warum sie sie in die Runenkunst einwies. Vielleicht, weil sie auf diese Weise sicher sein konnte, dass ihr Geheimnis gewahrt blieb, umso mehr, da es sonst niemanden bedrohte: Bruder Remi war zum Mont-Saint-Michel zurückgekehrt und Bruder Ouen von Dudo unter fadenscheinigem Vorwand seines Hofamts enthoben worden. Vielleicht aber gefiel es der Gräfin tief in ihrem Herzen schlichtweg, das uralte Wissen, das ihr selbst die Mutter vermittelt hatte, weiterzugeben.
    Agnes war in jedem Fall sehr lernbegierig. Viel schneller hatte sie sich alle Runen eingeprägt als die Buchstaben des griechischen Alphabets, viel gerader und ebenmäßiger konnte sie sie aufschreiben als diese, und mittlerweile musste sie Gräfin Gunnora kaum mehr nach der Bedeutung

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