Melville
1978
„Komm
schon, Mel...”, Jonathan, mein älterer Bruder, zieht etwas genervt
an meiner Schuluniform-Jacke und verlangt, dass ich aussteige.
„Ich
will aber nicht!”, sage ich trotzig.
„Willst
du, dass Mama wegen dir traurig ist?”, er legt ein vorwurfsvolles
Gesicht auf. Ich blicke aus dem Fenster und erkenne diesen gehassten
Ort wieder. Hier irgendwo liegt sie seit bereits zwei Jahren,
zwischen Bäumen, Sträuchern und Steinen fremder Gräber. Ich bin
gerade einmal sechs Jahre alt, mein Bruder neun. Er kann sich
wenigstens noch richtig an sie erinnern, darum beneide ich ihn immer
wieder heimlich.
„Mama
kann nicht mehr traurig sein.”, antworte ich trocken. Jonathan
seufzt und blickt hilfesuchend zum Fahrer, der uns beide von der
Schule abgeholt hat, doch er sitzt nur stumm auf seinem Platz und
wartet, dass wir endlich aussteigen.
„Gut,
wenn du es so nicht willst, dann denke daran, wie sauer Papa sein
wird, wenn wir nicht gleich bei ihm zur Messe in der Kapelle sind!”.
Ich senke den Blick, ja, Papa kann sehr wütend werden, manchmal
macht er mir richtig Angst. Schweren Herzens gebe ich mich geschlagen
und lasse meine Beine auf den Boden des Fahrzeugs gleiten. Jonathan
öffnet die Tür und zieht mich hinter sich her. Die Luft ist
nasskalt, mein Atem zeichnet sich als Nebelhauch vor meinem Mund ab
und die Kälte kriecht mir langsam in die Glieder. Mit zögerlichen
Schritten folge ich meinem Bruder über die langen Wege. Links und
rechts von uns sind unzählige Gräber, ich erschauere ein wenig,
denn ich habe Angst vor ihrem Inhalt, besonders seit mir Jonathan
manchmal diese Gruselgeschichten vorliest.
In
der Kapelle sind kaum Menschen und ich erkenne meinen Vater gleich,
als wir durch die Tür treten. Schnell drückt mich Jonathan in die
Reihe und die Orgelmusik beginnt, noch bevor wir bei ihm ankommen.
Ein zorniger Blick von ihm straft mich für mein offensichtlich
widerstrebendes Verhalten. Doch ich will einfach nicht hier sein.
Hier
wohnt der Tod.
1981
Ich
bin ganz aufgeregt und springe mit einem Satz aus dem Bett. Heute, am
dreiundzwanzigsten Juli, ist mein Geburtstag und da auch noch
Sonntag ist, muss ich nicht einmal zur Schule. Ich schlüpfe schnell
in meine Hausschuhe und werfe mir den Morgenmantel über. Vielleicht
bekomme ich ja endlich das Teleskop, das ich mir schon so lange
wünsche.
Ich
nehme mehrere Treppenstufen auf einmal und hechte in das Wohnzimmer,
voller Hoffnung gleich meinen Vater und Jonathan zu erblicken.
Niemand ist zu sehen, alles ist ganz still und das fahle Licht des
Morgens scheint durch die großen Fenster. Aber sicher sind mein
Vater und Jonathan im Salon. Fast rutsche ich auf dem glattpolierten
Parkett aus, kann mich aber gerade noch halten. Ich biege in den
Salon ab, doch auch hier ist niemand. Leicht enttäuscht stehe ich da
und überlege, ob sie vielleicht im Arbeitszimmer meines Vaters sein
könnten. Die letzten Jahre war er an meinen Geburtstagen immer
geschäftlich auf Reisen, ich erinnere mich nicht, dass ich jemals an
meinem Tag direkt mit ihm feiern konnte, doch dieses Jahr ist er da,
dass weiß ich ganz genau. Da höre ich Geräusche aus der Küche. Oh
ja!
Vielleicht will Vater nur die Wohnbereiche
für den Familienbesuch später sauber halten. Ich renne los, meine
Wangen färben sich rötlich vor innerer Anspannung und mit einem
Schwung werfe ich die Tür auf.
Da
steht die Haushälterin und sieht mich fragend an. Sie rührt gerade
in einer Schüssel und bereitet einen der Kuchen für die späteren
Gäste vor. Und als ich begreife, dass wohl niemand für mich etwas
vorbereitet hat, dass keine Überraschung auf mich wartet, kein
Lachen und keine Umarmung, schießen mir die kleinen heißen Tränen
in die Augen. Die Haushälterin setzt die Schüssel ab und kommt auf
mich zu. Sie will mich wohl trösten, doch ich mag es nicht, wenn
mich Fremde anfassen. Auch wenn sie schon seit mehr als einem Jahr
hier arbeitet, kenne ich nicht einmal ihren Namen. Ich mache kleine
Schritte rückwärts. Der Gurt, der sich aus meinem Morgenmantel
gelöst hat, verfängt sich zwischen Tür und Rahmen und ich werde
von ihm festgehalten. Ich kann kaum etwas durch den Tränenschleier
sehen, also reiße ich fest an dem Stoff und höre nur, wie er reißt.
Abgeschreckt durch meine Bewegungen bleibt sie stehen und beobachtet
mich nur. Scham über mein unbeholfenes Verhalten mischt sich jetzt
noch in meine Enttäuschung und als ich endlich frei bin, renne ich
schleunigst zurück
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