Merlin - Wie alles begann
seiner Beine greifen, doch dann fiel mir ein, dass
ich es abreißen könnte, vor allem wenn die Ameise sich wehrte. Also nahm ich stattdessen den Wurm. Wie erwartet klammerte
sich die Ameise an ihn und strampelte heftig.
Ich trug die Ameise und ihre Beute über das Stroh und ließ sie auf der anderen Seite sacht fallen. Als ich den Wurm losließ,
tat es die Ameise mir zu meiner Überraschung nach. Sie drehte sich zu mir und schwenkte heftig ihre winzige Antenne. Ich hatte
das deutliche Gefühl, dass ich ausgescholten wurde.
»Ich bitte um Verzeihung«, flüsterte ich grinsend.
Die Ameise schimpfte einige Sekunden weiter. Dann biss sie in den Wurm und schleppte ihre schwere Last davon. Zu ihrem Heim.
Mein Grinsen erstarb. Wo konnte ich mein Zuhause finden? Ich würde dieses ganze Lager schleppen, falls es sein müsste, diese
ganze Hütte, wenn ich nur wüsste, wohin ich gehen sollte.
Ich wandte mich zum offenen Fenster über meinemKopf und sah den Vollmond strahlen, hell wie ein Topf voll geschmolzenem Silber. Mondlicht strömte durchs Fenster und durch
die Ritzen im strohgedeckten Dach, es malte mit seinem leuchtenden Pinsel das Innere der Hütte aus. Für einen Augenblick ließ
das Mondlicht die Ärmlichkeit des Raums vergessen, es bedeckte den Boden mit einem Silberteppich, die rauen Wände mit Lichtgefunkel
und umgab die schlafende Gestalt in der Ecke mit dem Glanz eines Engels.
Doch ich wusste, das alles war eine Illusion, nicht wirklicher als mein Traum. Der Boden war nur Erde, das Bett nur Stroh,
die Hütte nur ein Schuppen aus Zweigen und Lehm. Der überdachte Gänsestall nebenan war mit mehr Sorgfalt gebaut worden! Ich
wusste das, denn manchmal versteckte ich mich dort, wenn das Schnattern und Zischen der Gänse mir freundlicher klang als das
Schreien und Schwatzen der Menschen. Der Stall war im Februar wärmer als diese Hütte und im Mai trockener. Selbst wenn ich
nichts Besseres als die Gänse verdiente, konnte niemand bezweifeln, dass Branwen mehr zustand.
Ich betrachtete ihre schlafende Gestalt. Ihr Atem, so leicht, dass er kaum ihre Wolldecke hob, wirkte ruhig und friedlich.
Leider wusste ich es besser. Der Friede mochte sie im Schlaf besuchen, doch im wachen Leben floh er sie.
Sie drehte sich im Schlaf um und wandte mir das Gesicht zu. Im Mondlicht sah sie noch schöner aus als sonst, ihre zarten Wangen
und die Stirn waren völlig entspannt wie nur in Nächten wie dieser, wenn sie tief schlief. Oder in den Momenten stillen Gebets,
die immer häufiger wurden.
Ich schaute sie finster an. Wenn sie nur reden würde! Mirsagen würde, was sie wusste. Denn falls sie irgendetwas über unsere Vergangenheit wusste, weigerte sie sich, darüber zu reden.
Ob sie wirklich nichts wusste oder ob sie einfach nicht wollte, dass ich es erfuhr, konnte ich nicht sagen.
Und in unseren fünf gemeinsamen Jahren in dieser Hütte hatte sie kaum etwas über sich selbst erzählt. Abgesehen von der gütigen
Berührung ihrer Hand und der immer gegenwärtigen Sorge am Grunde ihrer Augen kannte ich sie kaum. Ich wusste nur, dass sie
nicht meine Mutter war, wie sie behauptete.
Wie konnte ich so sicher sein, dass sie nicht meine Mutter war? Irgendwo in meinem Herzen wusste ich es. Sie war zu verschlossen,
zu verschwiegen. Sicher würde eine Mutter, eine richtige Mutter, nicht so viel vor ihrem eigenen Sohn verbergen. Und wenn
ich noch mehr Bestätigung brauchte, dann genügte ein Blick in ihr Gesicht. So schön – und so ganz anders als mein eigenes.
Es gab keine Spur von Schwarz in diesen Augen oder von Spitzen an diesen Ohren. Nein, ich war so wenig ihr Sohn, wie die Gänse
meine Geschwister waren.
Ich konnte auch nicht glauben, dass ihr richtiger Name Branwen war und meiner Emrys, auch wenn sie versucht hatte mich davon
zu überzeugen. Ich war sicher, dass wir nicht diese Namen gehabt hatten, bevor das Meer uns auf die Felsen geschleudert hatte.
Jedes Mal wenn sie mich so nannte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass mein richtiger Name . . . anders war. Doch ich hatte
keine Ahnung, wo ich die Wahrheit suchen sollte außer in den wabernden Schatten meiner Träume.
Branwen, falls sie wirklich so hieß, zeigte nur dann eine Andeutung ihres wahren Wesens, wenn sie mirGeschichten erzählte. Besonders die Geschichten der alten Griechen. Diese Erzählungen waren ihr eindeutig die liebsten. Und
mir auch. Ob sie es wusste oder nicht, ein Teil von ihr schien lebendig zu werden,
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