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MoR 01 - Die Macht und die Liebe

MoR 01 - Die Macht und die Liebe

Titel: MoR 01 - Die Macht und die Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
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Quintus Gavius Myrto kam dem Jungen zu Hilfe. Gemeinsam schafften sie den Vater nach Hause. Sullas Erscheinung und sein reines Latein faszinierten Myrto.
    Sobald sie den alten Sulla auf sein Strohlager gelegt hatten, setzte sich der grammaticus auf den einzigen Stuhl und fragte den Jungen nach der Familiengeschichte aus. Schließlich erklärte Myrto ihm, daß er Lehrer sei, und bot dem Jungen an, ihm kostenlos Lesen und Schreiben beizubringen. Sullas Elend entsetzte Myrto: Sollte ein patrizischer Cornelius mit offensichtlichem Talent für den Rest seines Lebens in den Elendsvierteln von Rom verkümmern? Nicht auszudenken. Der Junge sollte wenigstens so viel Bildung erhalten, daß er sich seinen Lebensunterhalt als Schreiber verdienen konnte.
    Sulla nahm das Angebot des Lehrers an, war jedoch entschlossen, dafür zu bezahlen. Wann immer er konnte, stahl er genug, um dem alten Quintus Gavius Myrto einen Silberdenar oder ein fettes Hühnchen zustecken zu können, und als er etwas älter wurde, verkaufte er seinen Körper, um an den Silberdenar zu kommen. Obwohl Myrto vielleicht ahnte, wie Sulla zu dem Geld kam, sprach er nie davon.
    Dank Myrto sprach Sulla bald das reine attische Griechisch und erwarb wenigstens Grundkenntnisse in Rhetorik. Myrto verfügte über eine umfangreiche Bibliothek, und Sulla konnte Homer, Pindar, Hesiod, Plato, Menander, Eratosthenes, Euklid und Archimedes lesen, außerdem lateinische Schriften - Ennius, Accius, Cassius Hemina, Cato den Zensor. Er arbeitete sich durch jede Schriftrolle, die ihm in die Hände fiel, und entdeckte dabei eine Welt, die ihn seine eigene Lage für ein paar kostbare Stunden vergessen ließ - eine Welt edler Helden und großer Taten, wissenschaftlicher Fakten und philosophischer Hirngespinste, er entdeckte den Stil der Literatur und das Wesen der Mathematik. Das einzige Vermögen, das Sullas Vater nicht schon lange vor der Geburt seines Sohnes verloren hatte, war sein wunderbares Latein. Sulla beherrschte neben Latein auch den Jargon der Subura und das Latein, das in den unteren Klassen gesprochen wurde. Er konnte sich also in allen Schichten der römischen Bevölkerung bewegen, ohne aufzufallen.
    Quintus Gavius Myrto hielt seinen Unterricht in einer ruhigen Ecke des Macellum Cuppedenis ab, des Marktes für Gewürze und Blumen, der sich auf der rückwärtigen, östlichen Seite des Forum Romanum befand. Er mußte auf einem öffentlichen Platz unterrichten, weil er sich kein eigenes Schulgebäude leisten konnte. Es war Myrto nie vergönnt, als Hauslehrer verwöhnte Plebejer-Kinder zu unterrichten oder in einem richtigen Schulraum die Sprößlinge der Ritter zu erziehen. Er ließ einfach seinen einzigen Sklaven einen hohen Stuhl für sich und Stühle für seine Schüler so aufstellen, daß die Marktkunden nicht darüber stolperten. Unter freiem Himmel, inmitten des Lärms und des Marktgeschreis der Gewürz- und Blumenhändler brachte er ihnen Lesen, Schreiben und Arithmetik bei. Weil er sehr beliebt war und den Jungen und Mädchen der Markthändler einen Preisnachlaß einräumte, durfte er seine Klasse bis zu seinem Tod immer in der gleichen Ecke unterrichten. Als Myrto starb, war Sulla fünfzehn.
    »Ach, Lucius Cornelius«, pflegte er zu sagen, wenn er mit dem Jungen nach dem Unterricht allein zurückblieb, stets bemüht, den Jungen von der Straße fernzuhalten, »irgendwo auf dieser großen Welt hat ein Mann oder eine Frau die Werke des Aristoteles versteckt! Wenn du wüßtest, wie ich mich danach sehne, etwas von diesem Mann zu lesen! Solch ein gewaltiges Werk, solch ein Verstand - stell dir nur vor, er war der Lehrer von Alexander dem Großen! Man sagt, er habe über alles geschrieben - über das Gute und das Böse, über Sterne und Atome, über die Seele und die Hölle, über Hunde und Katzen, Blätter und Muskeln, die Götter und die Menschen und über Gedankensysteme und das Chaos der Geistlosigkeit. Welch ein Genuß wäre es, die verlorenen Werke des Aristoteles zu lesen!« Dann schlug er verbittert die Hände zusammen, zuckte die Schultern und kramte in den herrlich nach Leder duftenden Schriftrollenbehältern und den säuerlich riechenden Papieren feinster Qualität. »Macht nichts, macht nichts«, murmelte er, »ich kann nicht klagen, ich habe ja noch meinen Homer und meinen Plato.«
    Myrto starb während eines kalten Winters, kurz nachdem sein alter Sklave auf einer vereisten Treppe ausgerutscht und sich das Genick gebrochen hatte. Eigenartig, dachte Sulla

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