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Muckefuck

Muckefuck

Titel: Muckefuck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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Schultag köderte Harald mich mit der Behauptung, sein Vater, ein Marineveteran, besitze eine hölzerne Hand. EineProthese, sagte Harald, die mittels langer, schnürbarer Ledermanschette am Armstumpf zu befestigen sei.
    Den Versucher lehnte ich zuerst ab, wollte Haralds Vorschlag, ihm in seine Wohnlaube zu folgen, ausweichen, war aber nicht stark genug. Meldete nur Zweifel an.
    »Du spinnst ja, hast ja ’ne Meise«, lauteten meine Kommentare. Harald ließ nicht locker. Er wischte seine Finger an der maschinengewirkten Bleylehose ab; schlug ein Geschäft vor:
    »Gib mir fünf Pfennig. Dann darfst du die Manschette zuschnüren. Sonntagvormittag. Da zieht mein Vater seine Sonntagshand an.«
    Seine Sonntagshand! Wenig glaubwürdig klang das alles. Andererseits schien die geschäftliche Basis real, auf die Harald nun, durch Forderung von fünf Pfennigen, die Angelegenheit gestellt hatte. Wie groß, rechnete ich fieberhaft und mit herabgezerrtem linken Mundwinkel, wie groß war das Risiko? Fünf Pfennige bedeuteten zwanzig Vanillekugeln, oder einen Nappo mit Kokosfüllung, zehn mehlbepuderte Gummibärchen, zwei Lakritzerollen. (Diese liebte ich weniger.)
    Und dagegen stand?
    Harald streckte bereits seine schwitzende Hand aus.
    Ich fasste in die Tasche, förderte aus einem Gewirr von Strippenknäueln, Radiergummi, Tintenwischer und abgebrochenen Posthornbuntstiften fünf einzelne, fast blanke Deutsche Reichspfennige zutage und ließ sie, jede Berührung vermeidend, aus angemessener Höhe in Haralds gierig gekrümmte Handflächen fallen. Sofort schlossen seine Finger sich um den Schatz. Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte fort. »Sonntag um zehn. Laube vierzehn«, rief er, mit einer Halsdrehung, die noch einmal sein Albinogesicht im Profil zeigte.
    Diese Lust nun, nachdem bezahlt war, und es war erst Donnerstag! Stimmte es denn, dass Kunsthände mit Ledermanschetten …? Heikel schien die neue Wissenschaft. Jemand fragen? Ede, den Vater? Ich zupfte an meiner Warze, die seit einigen Wochen zwischen Daumen und Zeigefingerwurzel spross. Orakel blieben jedoch aus. Es hieß, zu warten.
    »Ich übe Geduld«, dachte ich. Aber auf dieses Abenteuer lauern, wie zermürbte das! Wie zerrte es! Noch drei Schultage.
    Wir wichen einander aus. Ich, der Unbestimmtes mit fünf Kupfermünzen eingekauft, und Harald, der vielleicht Glück und Erfahrung verkauft hatte. Warm und klebrig ruhten die Geldstücke wahrscheinlich zwischen Wollfusseln in Haralds Tasche. Seine Augen waren unsteter denn je, und er rückte ab von mir, wenn wir in der Klasse an unseren winzigen Pulten saßen, obgleich ein Gang, vom Lehrer autoritär durchschritten, uns Geschäftspartner ohnehin trennte.
    Nachmittags dann, hinter der mächtigsten Philodendron pertusum , die ihren lichtraubenden Platz am Rande der Tischplatte behauptete und Händeschatten übers linierte Papier warf, spitzte ich Posthornstifte. Malte E-s und A-s in Achtklässlerblockschrift aufs Papier, – damals zählte man die Klassen 8 bis 1 und nicht umgekehrt wie heute. Meine Gedanken eilten bereits dem Freitag, dem Sonnabend voran, hin zu jenem Sonntag im April, der Erlebnisse verhieß.
    Die Zunge zwängte ich in eine Milchzahnlücke, malte Buchstabenreihen flink und folglich wackelig. Warf dann Heft und Stifte in den neuen Tornister und stürzte davon, um jenen entfernten Teil der Kolonie Tausendschön näher zu erforschen, in dem das Abenteuer stattfinden sollte.
    In Schauplatzmitte verlief die zweigleisige Bahnlinienach Lehrte, auf deren Gleisen in bestimmten Abständen D-Züge vorbeidonnerten. Speziell interessierte mich der Streckenabschnitt zwischen Bude siebzehn und Bude achtzehn, vielleicht noch Bude neunzehn. Dies die Bezeichnungen von drei beschrankten – mit Wärterbuden versehenen – Bahnübergängen gerade außerhalb des Weichbildes der großen Stadt. Hier öffneten alle Dampflokheizer die Kesselklappen, um ihre Feuerrösser mit frischer Kohle zu füttern. In der Dämmerung und nachts oder bei niedriger Wolkendecke glühte der Himmel. Parallel zur Bahn, dem Rückgrat des Schauplatzes, zog sich ein Sandweg durch Kiefernschonungen, unordentliche Wagenspuren hatten den Sand zerfurcht. Er hieß Königsweg und stellte vor Zeiten die kürzeste Verbindung zwischen Sommerresidenz und Stadtschloss der preußischen Herrscher dar. Königliche Kutschen fuhren hier, der Pasewalk’sche Ausspann am Beginn des Königswegs stellte frische Pferde. Majestäten, Prinzen, Kuriere, Minister und

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