Muschelseide
gespannt, die Geschichte zu hören. Misa hat uns einiges gesagt, aber nicht genug.«
»O ja! « Hiroko legte ihre schmale Hand auf ihr Herz. » Es ist alles so aufregend für uns! «
In ihren Augen standen Erwartung und Ergriffenheit. Und so erzählte ich denn; in diesem Haus war es leicht, von Ereignissen zu berichten, die schon so weit zurücklagen, denn auch das Haus hatte eigene Erinnerungen bewahrt. Und während ich sprach, zogen die Jahre vorbei, tauchten in Zeiten zurück, die so anders waren. Die Erinnerung war eine Macht, ein Zauber, der alle Entfernungen tilgte. Etwas fand statt, das man Zeitdehnung nennen könnte, eine Vergangenheit, die nach wie vor im Werden war. Die Vergangenheit machte, dass wir mit den Verstorbenen wanderten, ohne Berührung zwar, aber uns ganz nahe und niemals getrennt, denn der Faden ging weiter, durch Raum und Zeit, spinnwebfein wie ein Garn aus Muschelseide. Und nun war es Hiroko, die den Faden aufnahm. Ja, ihr Onkel Takeo hatte das Tuch bewahrt, das vom Blut seines Bruders getränkt war. Er kannte die Adresse der jungen Dame, der Saburos Liebe gegolten hatte. Wieder zurück in Japan, bereits schwer erkrankt, hatte er in einem Brief an die Dame das schwere Schicksal beklagt, das beide Liebenden getrennt hatte. Doch hatte er niemals eine Antwort erhalten.
»Wie viel Zeit war vergangen, als er Cecilia schrieb?«, fragte ich.
Hiroko seufzte.
»Viel Zeit. Die Rückreise nach Japan, mitten durch das Kriegsgeschehen, hatte über drei Monate gedauert. Und er selbst war am Anfang zu krank, um zur Feder zu greifen. Wissen Sie eigentlich, ob die Dame den Brief erhalten hat? «
Ich schüttelte traurig den Kopf.
»Sie starb bei der Geburt ihrer Tochter. Vielleicht lasen ihre Eltern den Brief? Aber wenn es so war, weiß ich nichts davon.«
Ein Schweigen folgte, das Hiroko schließlich brach.
»So kam es, dass das kostbare Tuch in der Familie blieb. Keiner wusste, aus welchen Fäden es gemacht war. Shinzo, mein Vater, entsann sich lediglich, dass sein Bruder es als ›Seide aus dem Meer‹ bezeichnet hatte. Als Takeo starb, berief seine Mutter den Familienrat ein, denn es war üblich, dass bei jeder wichtigen Entscheidung auch Verwandte einbezogen wurden. Für ihre Zeit war die Familie sehr selbstständig denkend. Kaum jemand erhob Einspruch, als beschlossen wurde, das Tuch als Andenken an beide Söhne und an die Schwiegertochter, die niemals das Haus betreten würde, zu bewahren und auf die nächste Generation zu vererben. Denn die Hochzeit war längst im Himmel geschlossen, und die Geister hatten Frieden gefunden.«
37. Kapitel
N och während Hiroko sprach, klingelte es an der Haustür; ich fuhr leicht zusammen, wie aus einem wundersamen Traum gerissen. Doch Hiroko schien nicht überrascht. Sie erhob sich in ihrer lebhaften Art, lief an die Tür.
»Ach, Kaori-Chan!«, hörten wir sie rufen. »Komm rasch herein und setz dich zu uns. Wir haben Besuch!«
Eine scheue Stimme antwortete. Dann trat hinter Hiroko eine junge Frau in den Raum. Als sie uns erblickte, wich sie erschrocken zurück, stammelte wiederholt »Sumimasen« – Entschuldigung! Doch Hiroko fasste sie am Arm, zwang sie, sich in dem freien Sessel niederzulassen, goss ihr frischen Tee aus der Kanne ein, schob ihr die Schale mit dem Gebäck zu. Währenddessen nickte der Großvater freundlich, stieß einige zustimmende Laute aus. Die junge Frau saß sehr aufrecht, die Knie fest zusammengedrückt, und machte einen schüchternen Eindruck. Hiroko legte ihr die Hand auf die Schulter und lächelte, verschmitzt und verstehend.
» Kaori-Chan spricht eigentlich recht gut Englisch.« Hiroko gab ihr das vertraute Kosewort, das ältere Menschen Jüngeren gegenüber anwenden. »Aber sie fürchtet, zu stören, und wird jetzt erst mal schweigen.«
Sie sprach weiter, heiter und unbefangen, als sei die junge Frau gar nicht anwesend.
» Kaori-Chan ist die Tochter des Priesters des ›Hie-Schreins‹, gleich gegenüber. Man wollte eigentlich eine Miko-San, eine Priesterin, aus ihr machen, nicht wahr, Kaori-Chan? « Die junge Frau nickte mit konfusem Ausdruck, wobei sie die Schultern einzog, wie verlegene Kinder das tun, während Großmutter fröhlich weitersprach: »Sie hat auch ihre Ausbildung begonnen, dann aber den Plan fallen lassen. Weil sie schüchtern ist, bloß deswegen! Denn schüchtern darf eine Priesterin natürlich nicht sein!« Beide Großeltern lachten jetzt herzlich, und Kaori trank ihren Tee, als ob sie sich hinter der
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